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Die Polizei sucht nahe der Gemeinde Oppenau in einem Waldstück dem verschwunden Waldläufer.

© dpa/Philipp von Ditfurth

Bewaffneter von Oppenau weiter auf der Flucht: „Der Wald ist sein Wohnzimmer“

Die Polizei sucht bei Oppenau nach einem Bewaffneten mit Pfeil und Bogen. Den Waldläufer umgibt eine wilde, mythische Landschaft, die schwer zu durchsuchen ist.

Wenn alles eine Geschichte wäre, eine ausgedachte, sie müsste im Schwarzwald spielen. Ein Mann lebt in einer Hütte am Waldrand, die nicht die seine ist. Er wird entdeckt, während er mit Pfeil und Bogen hantiert, der Entdecker ruft die Polizei. Vier Polizisten kommen. Sie entdecken den Hüttenbewohner, der scheint ihren Anweisungen zunächst zu folgen.

Dann zieht er plötzlich eine Pistole und entwaffnet damit die Polizisten. Er nimmt die Waffen an sich und flüchtet in den Wald. Die Polizisten rufen Verstärkung, sie starten eine Jagd, durchkämmen den Wald, fliegen mit Helikoptern und Wärmekameras darüber hinweg, sehen in Höhlen, Schluchten, Bunkern und verlassenen Gehöften nach. Sie finden den Mann nicht mehr, die Geschichte ist echt. Sie spielt in diesen Tagen im Schwarzwald.

Rausch ist als Sonderling bekannt

Yves Etienne Rausch, so heißt der Flüchtige, 31 Jahre alt. Ein kleiner, schmaler Mann, kahler Kopf, Kinnbärtchen. Er kommt aus Oppenau, einem Städtchen am Rand des nördlichen Schwarzwalds, gleich außerhalb der Stadtgrenzen erheben sich die Waldberge.

Unten ist Rausch als Sonderling bekannt. Im langen Mantel und mit einer Ratte auf der Schulter sei er durch die Stadt flaniert, erzählen die Oppenauer. Ein Städtchen im Ausnahmezustand. Während Rausch flieht, werden Geschichten über ihn bekannt. Wie er einst im Streit eine Armbrust auf seine Mitbewohnerin gerichtet hatte, sich ein Pfeil löste und er die Frau beinahe getötet hätte. Unabsichtlich, sagt die Frau.

Er saß dennoch dreieinhalb Jahre im Gefängnis. „Wald-Rambo“, so nennt die „Bild“-Zeitung Rausch. Zuletzt sei er wohnungslos gewesen, habe für eine warme Mahlzeit am Tag geholfen, eine Minigolfanlage zu renovieren. Der Betreiber der Anlage spricht von einem Menschen mit „sehr eigenen Wertvorstellungen“. Ein Rechtsextremist? Eher nicht. Ein Waffennarr ganz sicher. Und ein sogenannter Waldläufer.

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So bezeichnet sich der Verfasser eines Manifests, das in Oppenau kurz nach Rauschs Flucht die Runde machte. Der Brief, in schnörkeliger Schrift geschrieben und mit Siegel versehen, stammt nicht von Rausch, das hat der SWR inzwischen recherchiert.

Zu eigen machen wollte Rausch sich die Zeilen des Verfassers aber wohl schon. Er habe ihn, so der SWR, einem Oppenauer Gastronom überreicht mit den Worten: „Lest euch das mal durch, so bin ich eingestellt.“ Über den Zeilen steht: „Der Ruf der Wildnis“.

Der Wildnis ausgesetzt

„Waldläufer zu sein, bedeutet unabhängig durch die Wälder streifen zu können“, schreibt der Verfasser. Er kritisiert eine übertechnologisierte Welt, die Ausbeutung der Menschen in ärmeren Ländern. Wer täglich mit Töpfen auf Herdplatten koche, dem gelinge es nicht mehr, ohne diese auszukommen.

Polizisten des Sondereinsatzkommandos SEK stehen in einem Wohngebiet am Rand der Ortschaft Oppenau.
Polizisten des Sondereinsatzkommandos SEK stehen in einem Wohngebiet am Rand der Ortschaft Oppenau.

© dpa/Philipp von Ditfurth

Die Probleme, auf die man in den Wäldern treffe, ließen sich aber kaum durch bekannte Techniken lösen. „Der Wildnis ausgesetzt würden die kultivierten Menschen direkt neben einem Teich verdursten, direkt neben einem Dickicht erfrieren, direkt neben tausender essbarer Sachen verhungern.“

Die Zeilen passen so gut zu Rauschs Flucht, dass diese beinahe geplant erscheint. Das ist unwahrscheinlich. Und dennoch fügen sich Geschriebenes und Wirkliches erstaunlich exakt. Vier Tage schon streift Rausch durch den Schwarzwald.

Der Wald ist sein Wohnzimmer

„Wer das Wissen hat, kann lange Zeit im Wald überleben“, sagte ein Survivaltrainer der „Badischen Zeitung“. Als Nahrung böten sich Wildkräuter und Insekten an, auch Gemüse, das der Flüchtige nachts aus Beeten von Schwarzwaldhöfen klauen könne. Trinken könne er aus Bächen.

Der Offenburger Polizeipräsident wies auf seinee Ortskundigkeit hin: „Der Wald ist sein Wohnzimmer“, sagte Reinhard Renter am Dienstag. Achteinhalb Hektar hätten seine Beamten bereits abgesucht, gerade mal ein Zehntel der Waldfläche rund um Oppenau. Der Waldläufer – er ist im Schwarzwald in seinem Element.

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Einst waren es die Römer, die dem Schwarzwald seinen Namen gaben. „Silva nigra“, so nannten sie die nahezu unbewohnte Fläche im Osten der Rheinebene, die so schwarz gar nicht war: Damals beherrschten Laubbäume die Szenerie, im Herbst muss der Wald bunt gesprenkelt gewesen sein.

Die Bezeichnung der Römer, sie entsprang wohl eher ihrer Furcht vor dem unbewohnten Gebiet. Weil sie sich nicht rein trauten, siedelten sie am Rand. Der Schwarzwald war ihnen eine natürliche Barriere zu den Wildlingen dahinter.

Ein bisschen wie die Mauer in „Game of Thrones“, bewacht durch die Nachtwache, die die sieben Königslande vor den schlafenden weißen Wanderern im Land des ewigen Winters schützen soll. „Und wenn sie aufwachen, was dann?“, fragt Pypar. „Dann ist die Mauer hoffentlich hoch genug“, antwortet Samwell Tarly.

Das Märchen "Das kalte Herz" spielt hier

Der Schwarzwald, ein Land der Mythen. Wo Bäume das Licht nehmen, da lebt die Fantasie. „Das kalte Herz“, so nannte Wilhelm Hauff sein 1827 erschienenes Märchen über den Köhler Peter Munk, der sich in seinem Streben nach Reichtum einem Schwarzwald-Geist anvertraut, diesem im Gegenzug aber sein Herz schenken muss.

Peter bekommt fortan Geld so viel er möchte, aber die Armen vor seinem Haus vertreibt er und er erschlägt seine Frau. Die Wendung zum Guten erfolgt mithilfe eines zweiten Geists, dem Glasmännlein. Sieben Tage solle Peter seine Taten überdenken, befiehlt das Glasmännlein. Dieser bereut – und gewinnt mit der Hilfe des Glasmännleins sein Herz zurück.

Die Landschaft ist schwer zu durchsuchen

Die Landschaft rund um Oppenau, so sagte es der Polizeipräsident, sei für seine Beamten besonders schwer zu durchsuchen. Von steil abfallenden Klüften und felsdurchsetztem Gebiet berichtete er, widrig begehbar für die schwer bepackten Sondereinsatzkommandos. Auch auf Passanten trifft der Waldläufer hier eher nicht, sie sollen das Waldgebiet ohnehin nicht betreten.

In den Tiefen des Schwarzwaldes ist Yves Etienne Rausch verschwunden.
In den Tiefen des Schwarzwaldes ist Yves Etienne Rausch verschwunden.

© imago images/Shotshop

Eine Landschaft, die in Deutschland in ihrer Wildheit ihresgleichen sucht. Von Gletschern geformte Karseen, kreisrunde Gewässer am Fuß steil abfallender Felswände, glotzen wie dunkle Augen zum Himmel, zum Beispiel der Glaswaldsee, ganz in der Nähe von Oppenau. Eine Landschaft, die prägt, auch den berühmtesten, wenn auch zugereisten, Schwarzwälder: Martin Heidegger.

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„Wälder lagern / Bäche stürzen / Felsen dauern / Regen rinnt. // Fluren warten / Brunnen quellen / Winde wohnen / Segen sinnt.“ Dieses Heidegger-Zitat steht auf einer Infotafel vor der kargen Hütte im südlichen Schwarzwald, in der der Philosoph sein Hauptwerk „Sein und Zeit“ verfasste. In der Hütte am Waldrand vereinigte sich das Äußere mit Heideggers Überzeugung, dass alles Moderne und Urbane zu verabscheuen sei, er schimpfte auf Fabriken und das Großstadttreiben, selbst im zahmen Freiburg.

Auch sein lebenslanger Antisemitismus rührte von hier, den Kapitalismus dachte er als jüdisch. Dem setzte er seinen Wunsch entgegen, zum Urwüchsigen und Ursprünglichen zurückzukehren. „Wenn in tiefer Winternacht ein wilder Schneesturm mit seinen Stössen um die Hütte rast und alles verhängt und verhüllt, dann ist die hohe Zeit der Philosophie“, schrieb er. In seiner Ablehnung der modernen Welt wäre sich Heidegger womöglich mit dem Waldläufer von Oppenau einig geworden. Die Hoffnung besteht, dass alles glimpflich endet.

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