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Wo ist die Blue Note? Hammondorganist Lonnie Smith, der sonst auch gerne auf einem eigens für ihn angefertigten elektronischen Spazierstock wile Rhythmen klopft.

© Camilla Blake/Jazzfest

Bilanz Jazzfest Berlin: In vielen Zungen redet es sich leichter

Vom Urlärm zur Vollendung: Eindrücke vom Berliner Jazzfest, zum letzten Mal unter Leitung von Richard Williams.

Von Gregor Dotzauer

Wenn sie nicht alle so verteufelt polyglott wären, ließe sich eine babylonische Sprachverwirrung kaum vermeiden. Keiner der Musiker, die Richard Williams in seinem dritten und letzten Jahr als Leiter des Berliner Jazzfests eingeladen hatte, würde diejenigen der nächsten Band verstehen, und sein einem halb akustischen, halb elektrischen Doppelalbum von Ornette Coleman entliehenes Motto „In All Languages“ würde kein Programm der kalkulierten Kontraste ergeben, sondern das eines heillosen Nebeneinanders.

Man mag versucht sein, es schon in den Klangaktionen des 20-köpfigen Orchesters zu hören, das der diesjährige Artist-in-Residence, der Schlagzeuger Tyshawn Sorey, am letzten der sechs Abende leitete. Aber wie hier jemand aus dem Urlärm eines frei improvisierenden Apparats eine Welt erschafft, die mit schroffen Eruptionen und zart collagierten Schwaden auf Ordnung dringt, ist eine Genesis von eigenem Reiz.

Mit drei zu geometrischen Zeichen kombinierten Taktstöcken, Handzeichen und schriftlichen Anweisungen formen sich Koalitionen und vergehen wieder. Das Schlagzeug rumpelt durch einen Vorhang elektronischer Geräusche. Indische Tablas und die iranische Kamantsche, eine Kniegeige, gehen eine seltene Verbindung ein. Europäische Harfe, chinesische Guzheng-Zither und Vibraphon bilden Tontrauben. Dies ist keine Musik am Nullpunkt aller Idiome, weil die Instrumente ihr Vokabular ebenso mitbringen wie die Musiker, die gerade in ihrer unbedingten Klischeevermeidung klischeegefährdet sind. Sorey erlaubt sich sogar ein Minimum vorbereiteter Streichermotive. Das Ergebnis dieser „Conduction“ ist aber um vieles abwechslungsreicher als die Mikroprozesse, die George Lewis vor zwei Jahren mit dem personell ähnlich besetzten Splitter Orchester in Gang setzte.

Offenbarung zum Kehraus

Am anderen Ende dieser kosmologischen Forschungen steht zum Kehraus John Beasleys MONK’estra aus Los Angeles. Eine mit zwölfköpfigem Blech losbrausende Turbine, die Thelonious Monks kantige Themen in voller Fahrt auseinandernimmt und neu zusammensetzt. Die melodischen Motive wirbeln, auf Anhieb oft kaum erkennbar, nur so durch die Bläsersätze. Zwischen Beschleunigung und Verlangsamung feiert der Meisterarrangeur Beasley Feste der Reharmonisierung und der Rhythmisierung bis zum latin feel. Drummer Terreon Gully und der neuseeländische Bassist Ben Shepherd halten die Glitzermaschine am Laufen, während Beasley am Klavier gar nicht erst versucht, Monks genialen Primitivismus nachzuahmen. Und wenn Till Brönner, der in der Trompetensektion aushilft, nach 22 Jahren Abwesenheit beim Jazzfest zum Solo in „Evidence“ ansetzt, gibt es beim Publikum kein Halten mehr. Es lässt sich darüber streiten, ob Musik dieser Perfektion noch Monks polterndem Geist gehorcht. Unter den Großformationen war das MONK’estra jedenfalls eine Offenbarung.

Nels Clines „Lovers“, ins Düstere spielende romantische Balladen von Henry Mancini, Annette Peacock, Sonic Youth und vielen anderen, haben vielleicht nie aus dem Studio auf die Bühne gedrängt. Wo die spröde Pracht von Michael Leonharts Arrangements mit Fagott, Celesta, Harfe und Marimba aber den wabernden Loops von Clines Gitarre, dem melancholischen Gesang seiner Lap Steel oder dem mattierten Ton seiner Boplinien standhalten will, braucht es aber mehr Vorbereitungszeit, als sie den Studierenden des Berliner Jazzinstituts, die neben Clines Zwillingsbruder Alex am Schlagzeug den Rahmen lieferten, zur Verfügung stand. Dennoch hatte das Ganze einen eigenwilligen Charme, was man von dem allzu gepflegten, kreuzbraven Euro-Jazz der NDR-Bigband unter ihrem norwegischen Leiter Geir Lysne nicht behaupten kann. Seine „Abstracts from Norway“ plätscherten mit von Solveig Slettahjell Englisch gesungenen Texten vor sich hin, und auch Eivind Aarset, wohl der finsterste Tonmanipulator der heutigen Gitarrenwelt, ging mit seinen Gerätschaften im müden Dauerlächeln dieser Musik unter.

Triumph der britischen Band Empirical

Überwach dagegen Empirical, ein junges Quartett, dessen reich timbriertes, stets transparentes Klangbild im Haus der Berliner Festspiele Begeisterungsstürme entfachte. Mit Nathaniel Facey am Altsaxofon und Lewis Wright am Vibraphon kehrt es an jenen Umschlagpunkt in den sechziger Jahren zurück, an dem der Jazz seine letzten harmonischen Gerüste zugunsten einer ungehemmten Freiheit einreißen wollte. Eric Dolphys „Out To Lunch“, dem das Kollektiv 2010 eine Hommage widmete, ist für die Briten nach wie vor als Moment eines nervösen Gleichgewichts von Bedeutung, der sich mit fünfzig Jahren zusätzlicher Erfahrung immer noch als eine mögliche zeitgenössische Form von Jazz bestimmen lässt. Ehrgeizig im Kompositorischen, von virtuoser Lässigkeit in der Ausführung, lyrisch in den Zwischentönen, und wenn es darauf ankommt, mit vollem energetischem Einsatz, ob bei Faceys coltranesken Motivkürzeln oder in Wrights stürmischen, doch bis ins Letzte artikulierten Vibraphonsoli. Ein Triumph.

Zu den Verdiensten von Richard Williams, der als konzeptstärkster Jazzfestleiter seit Langem in Erinnerung bleiben wird, gehört auch die neuerliche Einladung des Trompeters Ambrose Akinmusire. Mit seinem Sextett präsentierte er die Auftragssuite „Mae Mae“. Die erste Mae ist Mattie Mae Thomas, eine in Parchman Farm, dem Staatsgefängnis von Mississippi, inhaftierte Afroamerikanerin. Dort nahm sie ein Musikwissenschaftler 1939 mit kraftvollen Bluesgesängen auf, die Akinmusire als Ausgangsmaterial einer ebenso elegischen wie bürgerrechtlich engagierten Kunstmusik nahm, die er einer zweiten Mae aus Mississippi, seiner Großmutter, widmete.

Hochintelligenter Spaßjazz dann bei Dr. Lonnie Smith, dem 75-jährigen Turbanschrat in seinem Hammond B3-Orgelgebirge. Zusammen mit Gitarrist Jonathan Kreisberg und Drummer Xavier Breaker bringt er jede Phrase zum Glühen. Und er spricht Monkish: Seine Version von „Straight, No Chaser“ war so raffiniert wie eine Bearbeitung von John Beasleys MONK’estra.

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