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Kultur: Bilde, Künstler, maile nicht!

Eine

von Marius Meller

Kunst ist Mimesis, Nachahmung. Es fing damit an, dass man über Ereignisse schrieb, die ein paar hundert Jahre zurücklagen (Ilias, Odyssee). Oder gleich Äonen wie die Göttergeschichten (Hesiods Theogonie). Das war sicher, da bekam man keine Probleme mit der Gegenwart. Den 11. September 2001 begleitete eine Flut von Behauptungen der Rückkehr. Die Wirklichkeit kehrte zurück, indem sie den Medienkokon des Menschen durchbrach (Baudrillard). Die Geschichte kehrte zurück, nachdem man sie kurz zuvor für abgeschlossen erklärt hatte. Die Politik kehrte zurück. Der Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln kehrte zurück. Die Religionen kehrten zurück. Die achtziger Jahre kehrten zurück (Nena).

Und die Prophetie kehrte zurück. Man durchforste nur die Kunstproduktion, überall wird man fündig. Die Band The Coup konnte ihre neue Platte „Party Music“ 2001 nicht veröffentlichen, weil auf dem Cover explodierende Twin Towers zu sehen waren. David Finchers Film „Fight Club“ (1999) endete mit explodierenden Hochhaustürmen. Salman Rushdies Roman „Wut“ (2001, vor dem 11. September erschienen) zeigte dunkle Wolken über dem Empire State Building. Im Interview erklärte Rushdie allerdings entschieden: „Ich bewerbe mich nicht auf den Posten des Propheten.“

Und jetzt der arme britische Schriftsteller Chris Cleave! Sein Schmöker „Incendiary“ (soll im Herbst unter dem Titel „Lieber Osama“ bei Rowohlt herauskommen) erschien in England am 7. Juli. Die Plakate hingen sogar in den U-Bahnen. Das Cover des Buches zeigt eine brennende Stadt. Nach den Anschlägen von London am Erscheinungstag des Romans wurden die Plakate abgenommen. Auf der Homepage des Autors (www.chriscleave.com) kann man nun (neben vernichtenden und lobenden Rezensionen) die Tragödie eines Autors betrachten, der sich aus den Fängen der Realität nicht befreien kann. Er schreibt: „Die Äußerung von Marie Fatayi-Williams über den Verlust ihres Sohnes am 7. Juli ist wichtiger als alles, was ich geschrieben habe, und Sie müssen hier klicken, um sie zu lesen.“ Niemand wäre auf die Idee gekommen, die Äußerungen der klagenden Mutter mit den Texten eines Chris Cleave zu vergleichen. Der Autor, der zunächst nur einfach Pech hatte, hat sich in die Zwickmühle von Marketing und Moral manövriert. Wie zerknirscht muss er sein, wenn er versichert, er werde jedem antworten, der mit ihm „in Kontakt treten“ wolle.

Chris Cleave könnte sich auch einfach daran erinnern, dass Kunst nicht nur Nachahmung ist, sondern vor allem Nachdenken. Für sein Schreiben kann man ihm nur wünschen: die Rückkehr der Literatur.

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