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Kultur: "Billy Elliot": Das Glück im Tütü

Wie lässt sich ein Film am Reißbrett entwerfen? Zunächst wird sich der Produzent umschauen, was zuletzt im nationalen und internationalen Kino reüssierte.

Wie lässt sich ein Film am Reißbrett entwerfen? Zunächst wird sich der Produzent umschauen, was zuletzt im nationalen und internationalen Kino reüssierte. Sitzt er in England, wird er unschwer bei "sozialrealistischen" Themen und Formen landen und erkennen, dass komische und melodramatische Einsprengsel nicht schaden können.

Wir denken uns also eine Kleinstadt im Nordosten Englands, wir versetzen uns in das Jahr 1984. Wir denken uns eine Familie, die sich in den Streiks in den Kohlezechen engagiert und unter ihrem Engagement leidet; sagen wir, ein Vater und ein älterer Bruder sind involviert. Fügen wir Melodrama hinzu: Die Mutter ist vor wenigen Jahren gestorben. Fügen wir Komik hinzu: Eine senile Granny lebt im Haus. Und finden wir schließlich eine Story, die vom sozialen Konflikt ablenkt und einen Hauch reales Drama in unseren Film trägt. Ein Junge, gerade elf Jahre alt, entdeckt beim Boxtraining die Ballettklasse, er tauscht grobe Handschuhe und Ring gegen feine Lederschläppchen und Stange. Die Ambition seiner Lehrerin wird ihn bis in die Royal Ballet School treiben.

Das ist er: "Billy Elliot", der britische Erfolgsfilm des Jahres 2000. Natürlich funktioniert die Chose nicht ohne Production-Values. Man hat "das Gesicht des zeitgenössischen Theaters", Stephen Daldry, für ein Filmregiedebüt gewonnen, er löst seine Aufgabe nicht einmal schlecht, weil er Bilder zu entwerfen versteht und obendrein stringent bei den Schauspielern bleibt. Tatsächlich ist Jamie Bell, der die Rolle des tanzenden Billy übernahm, eine Entdeckung: Er kann nicht nur tanzen, er verfügt über eine große Leinwandpräsenz. Das Beste sind seine Tanzeinlagen, die einen Hauch Fred Astaire in die Arbeiterstadt tragen. Anderen Figuren erlaubt die Story keinen Schritt weg vom Klischee. Also ist der Vater vom "alten Schlag", er hat Probleme mit dem "weiblichen" Sport seines Sohnes. Der wiederum ist selbstverständlich nicht schwul; deshalb konterkariert ihn das Drehbuch mit einem Jungen, der nicht tanzt, aber ein Faible fürs gleiche Geschlecht hat. Und natürlich widersprechen sich der Ausbruch des Jungen und das lokale Engagement seiner Familie.

Besonders virulent aber stellt sich die Frage nach der Botschaft des Films. Der Streik wird scheitern. Aber einer hat es (mit Unterstützung des ganzen Dorfes) geschafft, ein anderes Leben anzufangen. Dieser Hang zum pars-pro-toto-Sozialkitsch unterscheidet "Billy Elliot" von seinen Vorlagen, unter denen man "Ganz oder gar nicht" oder "Brassed Off" vermuten kann. Schafft es dort eine Gruppe, ihrem Frust Ausdruck zu verleihen, kommt in Billy Elliot ein Einzelner unter Aufopferung der Gemeinschaft weiter. Und wozu? Um im Londoner West End als leading man in Schwanensee aufzutreten. Auch das noch: Flucht in den Kunstkitsch.

Veronika Rall

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