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Kultur: Bin ich für Sie geschaffen?

Der Liebesbrief der Moderne: Marcelle Sauvageots „Fast ganz die Deine“

Von Gregor Dotzauer

Manche Bücher gehen unter wie ein Stein. Auf unabsehbare Zeit lagern sie am Grund des Wörtermeers, und wer immer sich in diese lichtlosen Regionen verirrt, würde vermutlich darauf stoßen, dass literarische Größe allein nicht über das Schicksal eines Titels entscheidet. Schätze oder Plunder – die große Gleichgültigkeit trifft alle. Andere Bücher dagegen treibt es gelegentlich wieder an die Oberfläche, und dass es sich im vorliegenden Fall um ein Wunder an Hellsicht, Empfindsamkeit und menschlichem Behauptungswillen handelt, sollte einen nicht vorschnell zu der Behauptung verleiten, dass es so ja kommen musste.

Marcelle Sauvageots Buch „Fast ganz die Deine“ ist auch kein Stück Literatur im üblichen Sinn. Es ist der nie abgeschickte Liebesbrief an einen Mann, der ihr gerade erklärt hat, dass er eine andere heiraten will: ein um Nüchternheit bemühtes Dokument des Schmerzes; der Versuch, ihm eine Form zu geben, in der Hoffnung, ihn so von sich abzusondern und fern zu halten. Auf die autobiografische Beglaubigung könnte er sogar verzichten. Und dass Marcelle Sauvageot zunächst gar nicht daran dachte, ihn aus ihrer privaten Obhut zu entlassen, verhinderte nicht, dass der Brief bald in vieler Munde war.

Pariser Freunde überredeten sie 1933 zu einem Privatdruck des im Original schlicht „Commentaire“ überschriebenen Textes. Er erschien in einer Auflage von 163 Exemplaren; eines davon erreichte auch den surrealistischen Dichter René Crevel. Im Jahr darauf folgte auf Betreiben des Kritikers Charles Du Bos, der in seinem Nachwort noch von der Begegnung mit der Autorin berichtet, die erste Ausgabe in einem richtigen Verlag. Da war die Französischlehrerin Marcelle Sauvageot allerdings schon tot – mit 33 Jahren. Die Tuberkulose, die sie seit 1926 verfolgte, hatte sie nach einer Reise durch verschiedene Sanatorien in Davos eingeholt. Von da an wurde aus dem Ruf, der sich um ihre einzige Veröffentlichung rankte, stiller Ruhm.

1936 wurde es bei den Editions Stock neu aufgelegt, 1939 fand es schon einmal nach Deutschland, zu Riemerschmidt nach Berlin. 1943 tauchte es bei Mappemonde in Frankreich wieder auf, 1986 bei Critérion und im vergangenen Jahr als „Laissez-moi“ bei den Editions Phébus in Paris – als erfolgreichste Wiederentdeckung des Jahres. Begleitet von enthusiastischen Empfehlungen, die Schriftsteller wie Paul Valéry, Clara Malraux und Paul Claudel von Anfang an ausgesprochen hatten, war es endlich auch beim breiten Publikum angelangt. Nur ob der namenlose, lediglich als „Bébé“ apostrophierte Mann, an den das Buch gerichtet war, es jemals gelesen hat, weiß bis heute niemand.

„Fast ganz die Deine“ entfaltet, um ein paar imaginäre Verwandtschaften anzudeuten, auf gerade mal siebzig Seiten die Genauigkeitswut der Tagebücher von Anaïs Nin, die Unbedingtheit der Leidenschaften von Marguerite Duras und die Einsamkeitsaura eines John Cheever. Dabei entwickelt sie einen ganz eigenen Ton, in dem Sauvageots Aufrichtigkeitspathos, ihre Sehnsucht nach Hingabe und ihre sprachkritische, billige Ausflüchte attackierende Intellektualität sich die Waage halten. „Ich will gerne den Kopf verlieren“, sagt sie, „aber ich will den Augenblick begreifen, da ich den Kopf verliere, und die Erkenntnis des abdankenden Bewusstseins so weit wie möglich treiben. Man soll sein Glück nicht in Abwesenheit erleben.“ Und: „Um mich ganz zu verlieren, hätte ich sicher sein müssen, dass ich mich nicht mehr brauche.“ Zugleich: „Ich liebte ihn, als wäre er ich selbst.“

Es ist bei allem Staunen, dass Sauvageots Buch so direkt zu heutigen Lesern spricht, nicht so, dass sich keine Distanz zur Epoche seines Entstehens ermessen ließe. Das Spiel mit Du und Sie, mit dem sich die Autorin den Geliebten passagenweise vom Leib hält, funktioniert ohne Abstriche nur da, wo solche Intimitätsgrenzen noch intakt sind. Und wenn „Bébé“ sich bei seinem schriftlich eingereichten Abschied auf soziale Verpflichtungen beruft, hinter denen so etwas wie die Idee einer standesgemäßen Ehe aufscheint, rücken Hindernisse in den Blick, die im Zeitalter der – zumindest postulierten – Gefühlsunmittelbarkeit bemühter wirken, als sie es wohl einmal waren.

Aber vielleicht lassen diese winzigen Irritationen die Absolutheit, mit der Sauvageot ihren verlorenen Kampf kämpft, nur um so deutlicher hervortreten. Ja, sie bewahren einen vor der Annahme, dass es reine, voraussetzungslose Gefühle gebe, die nicht mit Geschlechterrollen und sich wandelnden Tauschwerten umgehen müssten – gerade weil Sauvageot gegen die dienende Position der Frau rebelliert. „Zu einer Frau sagt man: ,Der, für den Sie geschaffen sind’, und zu einem Mann: ,Die, die für Sie geschaffen ist’; hört man je: ,Die, für die Sie geschaffen sind’?“

Uneingeschränkte Parteinahme für die Unglückliche ist übrigens keine notwendige Konsequenz der Lektüre. Man kann sich Marcelle Sauvageot durchaus als anstrengende, hartnäckig um Aufmerksamkeit buhlende, unversöhnliche Gefährtin vorstellen – und die Krankheit als einen Faktor, der die Beziehung zu ihr unendlich komplizierte.

Parteilichkeit ist nur insofern gefordert, als Lauheit ihr als größere Sünde vorkommt denn als Verrat. Mit beunruhigender Klarheit dringt Sauvageot ein in die zweifelhafte Tröstung des Geliebten, dass Freundschaft doch der edlere Teil der Liebe sei. Und sie stellt ein für allemal klar, dass man unterhalb der Intensität, die sie aufbietet, nicht einmal eine Affäre anfangen sollte. Das macht die Zumutung und die Ermutigung dieses bewegenden Buches aus.

Marcelle Sauvageot: Fast ganz die Deine. Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Mit einem Nachwort von Ulrike Draesner. Nagel & Kimche, Zürich 2005. 109 Seiten, 12,90 €.

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