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Untergetaucht. Adolf Eichmann in Argentinien.

© akg-images / NordicPhotos

Biographie: Simon Wiesenthal - Eichmanns Jäger

Er war ein Egomane. Er war kein Engel: Tom Segev hat das Leben von Simon Wiesenthal - lesenswert - aufgeschrieben.

Als die ersten amerikanischen Panzer am 5. Mai 1945 ins Konzentrationslager Mauthausen rollten, rannten die Häftlinge begeistert zum Eingangstor. Einer von ihnen, ein polnischer Jude, war dermaßen abgemagert und wegen seines verstümmelten Fußes von solchen Schmerzen geplagt, dass er keine Kraft mehr für den Rückweg hatte: Er kroch auf allen Vieren. Der KZ- Häftling erholte sich jedoch sehr schnell und verbrachte die nächsten 60 Jahre seines Lebens damit, NS-Verbrecher vor Gericht zu bringen und an deren Opfer zu erinnern. Als er mit 96 Jahren starb, war er zu einer moralische Instanz geworden und einer der Helden des 20. Jahrhunderts.

Simon Wiesenthal war seit der Festnahme Adolf Eichmanns 1960 als „Nazi- Jäger“ international bekannt. Zu dieser Festnahme trug er wesentlich bei, beweist der renommierte israelische Historiker Tom Segev in seiner Biographie. Wiesenthal hatte sein dramatisches Leben in zwei Autobiographien, zehn Romanen und Tausenden von Interviews erzählt. Über ihn wurden bereits vier Biographien verfasst und ein Dokumentarfilm gedreht. Segev suchte daher nach neuen Erkenntnissen. Dafür tauchte er als Erster in die 300 000 pedantisch geordneten Unterlagen von Wiesenthals Nachlass in Wien ein. Darin fand er nicht nur 20 verschiedene schriftliche Lebensläufe Wiesenthals, sondern auch brisantes neues Material. Wiesenthal, der bisher als Einzelgänger galt, stand jahrelang im Dienste des israelischen Geheimdienstes Mossad. Für diesen arbeitete er nicht nur als Zionist, vielmehr erhielt der staatenlose Flüchtling in Österreich auf diese Weise ein israelisches Reisedokument und damit eine Aufenthaltsgenehmigung, obwohl er niemals Israeli war.

Noch bevor der Mossad 1951 gegründet wurde, organisierte Wiesenthal mit israelischen Agenten des Außenministeriums Ende 1948 die Entführung Eichmanns. Obwohl die Aktion scheiterte, zeigte sie, dass der junge Staat Israel bereits während des Unabhängigkeitskrieges an der Verfolgung von Nazi-Verbrechern interessiert war. Diese neuen wichtigen Erkenntnisse präsentiert Segev. Er musste dafür vor das Oberste Gericht Israels ziehen und die Genehmigung der israelischen Zensur einholen – das Buch ist gleichzeitig in Israel erschienen –, um berichten zu dürfen, dass der frühere hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer eine zentrale Rolle bei Eichmanns Festnahme gespielt hatte. Dieser deutsche Jude stand ebenfalls im Dienste des Mossad.

Im Mittelpunkt des Buches stehen Wiesenthals unermüdliche Aktionen zur Verfolgung von Nazi-Verbrechern. Er saß in seinem kleinen Büro vor einer Wandkarte mit den Standorten der Konzentrationslager, wühlte in Akten, stöberte in Dokumenten und fügte dank seines fotografischen Gedächtnisses Informationsfitzel zusammen. Segev beschreibt aber auch Wiesenthals Leben vor und während des Krieges, den er „von einem Wunder zum anderen“ überlebte – im Gegensatz zu seiner Mutter und zahlreichen Verwandten und Freunden. Wiesenthal wurde von Schuldgefühlen geplagt, weil er nur dank der Hilfe anständiger Deutscher überlebt hatte. Daher lehnte er jede Kollektivschuld ab und kämpfte für die Bestrafung von NS-Verbrechern, egal wie alt sie waren. Während des Kalten Krieges arbeitete er oft als Einzelkämpfer, da die Geheimdienste, auch der Mossad, lieber ehemalige NS-Kriegsverbrecher rekrutierten, als sie zu verfolgen. Wiesenthal glaubte an die Justiz, und Schuldsprüche waren ihm wichtig. Dieses Vermächtnis ist vor dem Hintergrund der letzten Prozesse gegen Nazi-Kriegsverbrecher immer noch relevant. Er trug viel zur Erinnerung an den Holocaust bei, den er nicht nur als eine jüdische, sondern als eine Tragödie der Menschheit betrachtete.

Mehrere Kapitel thematisieren den langjährigen Kampf zwischen Wiesenthal und dem damaligen österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky, der ihm Kollaboration mit den Nazis vorwarf. Kreisky ließ Wiesenthal sogar bespitzeln. In Wiesenthals Nachlass fand Segev ein Foto von Kreisky, dem jemand, vielleicht Wiesenthal, ein Hakenkreuz auf das Revers gekritzelt hatte. Mit dem nüchternen Blick des Historikers schreibt Segev von einer „Zankerei zwischen zwei Juden, die eine einzige Bestrebung hatte (an)einander geraten lassen – Teil der österreichischen Gesellschaft zu sein“. Wiesenthal arbeitete im Auftrag der sechs Millionen jüdischen Nazi-Opfer, setzte sich jedoch häufig für andere Opfer wie die Sinti und Roma ein. Segev hegt Sympathie für den Humanisten Wiesenthal, der oft Menschenrechtsverletzungen anprangerte – „nur nicht an den Palästinensern“, wie Segev kritisch anmerkt.

Segev erzählt das dramatische Leben voller Widersprüchen eines KZ-Überlebenden, der zu einem Volkshelden avancierte und mit den Großen der Welt verkehrte. Sein Werk ist auf Unterlagen gestützt und zugleich lebendig, zum Teil fesselnd. Er beschreibt Wiesenthal mit Empathie, aber auch kritisch und versucht, die vielen Unstimmigkeiten in Wiesenthals Leben zu klären und Fakten von Legenden zu trennen.

Segevs Wiesenthal ist kein Engel, sondern ein Egomane, der über sich im Plural sprach und die Medien oft manipulierte. Er erfand manchmal Geschichten, um die arabischen oder kommunistischen Staaten zu diskreditieren. Der Zionist lebte lieber unter Antisemiten und ehemaligen Nazis in Österreich, wo er nach einem Bombenanschlag unter Polizeischutz stand. Er führte erbitterte Kämpfe gegen jüdische Funktionäre in Österreich. Zugleich freundete er sich mit Hitlers Architekt Albert Speer an und stellte sich anfangs auf die Seite des Wehrmachtsoffiziers Kurt Waldheim gegen den Jüdischen Weltkongress. Dieser Fehler hat ihn vermutlich 1986 den Friedensnobelpreis gekostet. Dem Komitee war er zu umstritten. Solche bitteren Niederlagen machten sein Leben so dramatisch und Segevs Biographie lesenswert.

– Tom Segev: Simon Wiesenthal. Eine Biographie. Übersetzt von Markus Lemke. Siedler Verlag, München 2010. 562 Seiten, 29,95 Euro.

Igal Avidan

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