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Kultur: Bis an die Etsch

Joseph Zoderers Held verlässt die Frau und sucht sein Südtirol

Von Katrin Hillgruber

Das neue Buch von Joseph Zoderer beschert ein seltenes Leseglück, nämlich das eines im besten Sinne altmodischen Romans. Ein Mann nimmt Abschied von seiner Frau, seiner Heimat, und – so wird auf beklemmende Weise immer deutlicher – vom Leben. Mit ungewohnter Intensität vermischt sich die Schilderung strahlend schöner alpiner Landschaften mit den Erinnerungen und den oft düsteren Seelenlandschaften des Helden.

Heimatverteidiger in Lederhosen

Jul heißt der Journalist aus Meran, der sich auf den Weg in den äußersten Süden Europas, nach Sizilien, macht. Es ist eine Reise ohne Wiederkehr. Auslöser für die Flucht, die der Ich-Erzähler zunächst als familiengeschichtliche Recherche ausgibt, ist ein ebenso jäher wie unvergänglicher Schmerz: Juls Tochter Natalie ertrank im Schwimmbad, als ihre Mutter Mara, so vermutet er, an der Hotelbar in das Gespräch mit ihrem italienischen Liebhaber vertieft war. Dieser unerhörte Verdacht treibt die Ehe mit Mara in die Erosion. Vor allem aber deckt er einen Mentalitäts- und Nationalitätenkonflikt auf, den es zwischen den politisch aufgeklärten 68er-Protagonisten des Romans per se gar nicht geben dürfte.

„Siamo in Italia“ – irgendwann taucht dieser Satz auf, den ein städtischer Tourist Jul bei einem Wirtshausstreit an den Kopf schleuderte. Wie ein Monolith, ein Symbol der Fremdheit, setzt er sich fest. Mit Schrecken bemerkt Jul, dass er nicht zuletzt gegenüber seiner Frau, an der ihn einst das südländisch „Andere“ angezogen hatte, zu einem „lederhosigen Heimatverteidiger, eigentlich zu einem selbsternannten Heimatbesitzer“ geworden ist. Denn die Parole „Siamo in Italia“ hatten in den dreißiger Jahren auch Mussolinis Aktivisten ausgegeben, anmarschiert zur Italianisierung Südtirols. Heute noch zeugen Pappeln von diesem Bemühen; im Tiroler Bergwald muten sie fremd an. Mussolini ließ den als italienisch apostrophierten Baum an den Ufern der Etsch pflanzen.

Unter den Tirol-Eroberern in ihren schwarzen Uniformen befand sich an prominenter Stelle Maras Vater, der Sizilianer. Dessen Spuren folgt Jul in Agrigent. Dort wird offenbar, dass es nicht um eine bloße Identitätskrise des Helden geht, sondern um Leben und Tod. Zoderers Helden sind alle Fremdheitsspezialisten, angefangen mit Olga aus „Die Walsche“, jenem Buch, das ihm 1982 den Durchbruch brachte. Jetzt, unter dem „staubblauen Südhimmel“ Siziliens, entwickelt das Fremdheitsgefühl seine eigene Zwangsläufigkeit. Die Todesmotive verdichten und beschleunigen sich, als würde nach der Tochter in diesem Text, der auch eine umgekehrte Tonio-Kröger-Geschichte ist, noch ein zweites Opfer gefordert. Wie Joseph Zoderer diesen Sog aus Rückblenden und Vorausdeutungen komponiert, offenbart seine klassische Meisterschaft.

Joseph Zoderer: Der Schmerz der Gewöhnung. Carl Hanser Verlag, München 2002. 290 Seiten, 19,90 Euro.

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