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Kultur: Bis morgen, Marta

„Whisky“ oder Wie das Leben in erloschene Seelen zurückkehrt

Strenger Seitenscheitel, verkniffener Mund, niemals ein Lächeln: Marta ist fertig mit dem Leben. Ewige Vorarbeiterin in Jacobo Köllers winziger, längst rückständiger Strumpffabrik, ist sie selbst zu einer Uralt-Maschine geworden. Immergleiche Bewegungen (so wenig wie möglich). Immergleiche Sätze (so wenig wie möglich), Hülsen, die man ausspuckt auf Verlangen vor der Welt. „Bis morgen“, sagen die beiden jüngeren Kolleginnen, die ihr vor Feierabend die Taschen offen vorzeigen müssen. Und Marta antwortet: „Bis morgen, wenn Gott will.“

Ihr Chef Jacobo: einer, der sich im stummen Leiden eingerichtet hat wie sie. Einer, der sich an kaputten Rollläden zu schaffen macht und sie doch nie richtig repariert, ein Tageslichtscheuer, ein Nachtlichtscheuer auch – zu Hause knipst er alle Lampen, die er nicht braucht, sofort wieder aus. Ein Geizhals, ein Musikfeind. Einer, der so wenig wie möglich Kontakt hält zur Welt und seinen weiblichen Angestellten. „Bis morgen“, sagt er zu Marta. Und Marta antwortet: „Bis morgen, Herr Jacobo.“

Traurig erloschen und ungemein bezwingend ist der Mikrokosmos, in den dieser Film führt – und doch, auch in erloschene Menschen kann das Leben zurückkehren, es braucht dafür nur Zeit und vielleicht ein bisschen Glück. Erst aber ist Jacobo die Mutter weggestorben, die er in seiner Wohnhöhle jahrelang gepflegt hat – noch immer steht der Rollstuhl rum in seinem Schlafzimmer und das Sauerstoffgerät. Zur Beerdigung lädt er, in knappstmöglichem Fax, seinen Bruder Herman aus Brasilien ein, auch er beruflich ein Sockenmann, aber einer mit Familie und einer viel auf Reisen. Einer stillen Laune oder auch nur Lebensscham folgend, will Jacobo sich Herman gegenüber als frisch verheirateter Mann ausgeben. Und dafür braucht er Marta.

Ein Vertrag für ein paar Tage nur und die Nächte dazu. Zwei tote Seelen erfinden sich eine Vergangenheit. Ein Hochzeitsfoto, eine Hochzeitsreise. Eine Wohnung zusammen, die von Leben oder doch zumindest von Ordnung zeugt. Eine Komödie veranstalten da zwei für einen dritten (und Marta fragt nicht und beugt sich von Anfang an umsichtig, ohne zu murren), eine Komödie ohne ein einziges Lachen. Es sei denn, der Fotograf fordert zur Lockerung der Gesichtsmuskeln auf: „Sagen sie ,Whisky’!“

Todtraurig das. Und wie zärtlich zugleich. Nicht zärtlich zwischen den Menschen, zumindest nicht gleich, und ganz bestimmt nicht so, wie wir uns das jetzt vorstellen mögen. Nein, zärtlich im Blick auf diese Figuren, die alles hinter sich zu haben scheinen, nur war dieses Alles eigentlich nichts. Zärtlich und genau: Jede Szene hat ihren exakt bestimmten Rahmen, ihre fein austarierte Zeit. Und die Kamera steht starr wie eine jener uralten Photographen-Apparaturen, vor denen sich die seltsamsten Säugetiere der Welt namens Mensch bewegen. Kleine Suchbewegungen. Noch kleinere Findeerstarrungen. Ein Beben in einem Abwenden des Kopfes. Eines in einer Hand, die sich nicht entzieht. Eines im Alleinsein im Bad, während Marta sich den Lippenstift nachzieht. Lippenstift! Dass ich das nochmal brauchen würde im Leben, und sei es zu so einem Spiel!

Irgendwann gehen Jacobo, Marta und Herman auf eine kleine südliche Winterreise, und wir sehen das Meer. Marta probiert ein Lächeln, der Wind fängt es gnädig auf. Herman ist einer, der Leben mitbringt und wieder wegtragen wird mit mit dem übernächsten Flugzeug nach Brasilien. Jacobo ist einer, der zurückkehrt, einer, der seinen Käfig gar nicht verlassen hat. Oder fast. Und Marta?

Ein Traum von Film. Makellos. Gemacht von zwei Dreißigjährigen. Ein Wunder. Mit großartigen Schauspielern, allen voran Mirella Pascual, die aus ihrem Nichts von Frau alles macht. Ja, man möchte nach einer Weile geradewegs und selig in die Leinwand hineinspazieren zu diesen Leuten, bis morgen oder sonstwann, wenn Gott will.

Delphi, Eiszeit, Hackesche Höfe,

International, Kulturbrauerei und Yorck

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