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Kultur: Blindgänger und Zeitbomben

Krieg ist überall: neue Filme von André Téchiné, Samira Makhmalbaf und Yüksel Yavuz bei den Filmfestspielen in Cannes

Krieg ist schön. Hauptsache, man hat, draußen vor den Toren von Paris, erstmal den Angriff der Stukas überstanden. Dann geht es, in unablässig flutendem Sommerlicht, durch Wälder, Wiesen und Weiden bis in ein einsames, leer stehendes, prächtiges Haus. Dort kann die junge Witwe mit ihren beiden Kindern dem Ende der fernen Kampfhandlungen und auch der Rückkehr in ihr erotisches Leben beruhigt entgegensehen: Schließlich ist ihr just beim Tiefflieger-Angriff ein halbwüchsiger Wolfsjunge namens Yvan zugelaufen, der sich zunächst als Beschaffer von Kaninchen, Geflügel und Fisch nützlich macht. Und den Wein dazu, durchweg nur die besten Tropfen, haben die einstigen jüdischen Hausbesitzer auch noch im Keller hinterlassen: So ein Krieg, so wunderschön wie damals!

„Les égarés“ (Die Verirrten) heißt der 15. Spielfilm des Franzosen André Téchiné, sein sechster im Wettbewerb von Cannes und dies Jahr der erste nationale Bewerber in der olymischsten aller Filmdisziplinen – und schon sind die Franzosen aus dem Häuschen. Die sonst gern scharfrichterlich aufgelegten Kollegen von „Libération“ jubeln feingaumig über einen Grand Cru im Werk Téchinés, die stets lokal- sowie nationalpatriotisch gesinnte „Nice Matin“ wedelt mit der ersten Goldenen Palme und notiert ergriffen, sogar der Autor der literarischen Vorlage, ein gewisser Gilles Perrault, halte den Film für besser als sein eigenes Buch. Angesichts heftiger französischer Präsenz im Wettbewerb und anderswo steht dem Festival der guten Laune offenbar nichts mehr im Wege.

Emmanuelle Béart spielt die Hauptrolle in diesem fernsehabendfüllenden Spielfilm, und sie bewegt sich darin wie immer: punktgenau. Auch die anderen Darsteller, das Drehbuch, die Kamera, ja, sogar die immer wieder dezent erklingenden Akkordeonakkorde erfüllen exakt ihr Pensum in einem Film, der nichts falsch machen will und deshalb auch nichts richtig macht. Dieser Krieg da, der vor sechzig Jahren in Europa tobte: ein entschärfter Blindgänger, längst einbalsamiert. Der Zweite Weltkrieg: immer wieder gerne genommen von europäischen Filmemachern, die sich um das internationale Prädikat „Ganz besonders wertvoll“ bewerben. Abgedankt hat dieser Krieg allerdings bald auch in „Les égarés“, kaum dass er, Grusel-Popanz, mal seine Fratze zeigen darf. Dann setzt man sich hingebungsvoll zu Tisch, wie immer im französischen Kino, und beim Abspülen kommt man sich näher.

Eisern einspaltig abgewatscht hat das nationale Kulturmeinungsführerblatt „Libération“ dagegen Samira Makhmalbafs „A cinq heures de l’après-midi“ (Fünf Uhr nachmittags), ein poetisches, pessimistisches Porträt Afghanistans nach dem Ende der Taliban-Diktatur, das genauso vom heutigen Iran oder von einem schiitischen Gottes-Irak der Zukunft erzählen könnte. Auch hier steht, nach dem Ende eines Krieges, der kaum etwas beendet hat, eine Frau im Mittelpunkt: Noqreh (Agdeleh Rezaie), Tochter eines strengen Moslems, geht in Kabul nur zum Schein in die Koranschule; doch kaum ist sie dem Blick des Vaters entronnen, schlägt sie die Burka hoch, streift die schmutzigen Schlappen ab und weiße Damenschuhe über und schleicht sich in die endlich eröffnete Mädchenschule. Sie hat einen kindlichen Traum: Sie will die erste Präsidentin Afghanistans werden.

Dass daraus nichts wird, und vor allem: wie und warum daraus nichts wird und auch überhaupt nichts werden kann, ist das leise Leitmotiv dieses Films, den die 23-jährige Tochter des iranischen Regisseurs Mohsen Makhmalbaf durchweg mit Laien vergangenen Herbst in der Nähe von Kabul gedreht hat. Denn das gewaltsame, von außen beförderte Ende einer Diktatur ist bedeutungslos, wenn die repressiven Strukturen – die Religion und vor allem das Patriarchat – unvermindert fortbestehen. Nokreh wird sich ihrem Vater beugen, der vor der um sich greifenden „Blasphemie“ in die Berge, die Armut, die Obdachlosigkeit flieht. Und sie wird nicht viel mehr haben als das Garcia-Lorca-Gedicht, das ihr ein Verehrer zusteckte und das dem Film den Titel gab: zunächst nur Text für eine Übung, frei sprechen zu lernen vor fremden Menschen, wenn denn die Zeit reif dafür ist. Tiefer aber die Hoffnung, eines Tages als Frau überhaupt zu einer eigenen Sprache zu finden.

Schon in ihrem ersten Film „La pomme“, mit dem Makhmalbaf 1998 glanzvoll in Cannes debütierte, hatte sie, in fast dokumentarischem Habitus, von dieser fatalen strukturellen Rückständigkeit erzählt. Zwei kleine Teheraner Mädchen leben in ihrem Elternhaus wie lebendig Begrabene, bis sie eines Tages für einen unbedeutenden, einen unglaublichen Nachmittag in ihre Stadt hinausgehen: Nichts geschieht, und alles geschieht. „A cinq heures de l’après-midi“ hat nicht die Wucht dieses Erstlings, aber ihm nun gleich wie „Libération“ vorzuwerfen, er renne offene Türen ein, führt zielstrebig in die Irre. Seine größte Schwäche – und er hat durchaus Schwächen – besteht im Gegenteil darin, aus Angst vor einer gar zu unilateralen Lesbarkeit schließlich für alles und jeden Verständnis aufzubringen, auch für den Vater, der die Zukunft seiner Tochter zerstört.

Krieg ist überall. In einer Zeit, die Flüchtliche überall auf der Welt verstreut, brechen die Kriege, aus denen sie geflohen sind, unvermittelt andernorts wieder auf. Yüksel Yavuz „Kleine Freiheit“, der deutsche Beitrag in der Nebenreihe „Quinzaine des réalisateurs“, fängt dort an, wo Michael Winterbottom diesjähriger Berlinale-Sieger „In this World“ aufhörte: Am Beispiel des 17-jährigen Kurden Baran (Cagdas Bozkurt), der ohne Papiere in Hamburg lebt, fragt er danach, was nach dem großen Exodus kommt. Und er antwortet: erst einmal die Vergangenheit. Seine stärkste Passage hat der zweite Film des 39-jährigen Yüksel Yavuz („Aprilkinder“) in jener Szene, in der Baran eine mögliche Rache nicht vollstreckt: Er verschont den Mann, den er als Denunzianten seiner ermordeten Eltern wiedererkennt. Baran befreit sich aus der Falle sich immer wieder erneuernder Gewalt – um bei der nächsten Gelegenheit dann doch hineinzutappen.

Ungelenk in seinen Dialogen, auch in der Konfliktentwicklung ist „Kleine Freiheit“, so ungelenk, dass man sich zeitweilig fragt, wie er es nach Cannes schaffen konnte – und dann bekommt die Geschichte unversehens doch jenen Sog, den es für einen Ort wie diesen braucht. Wer wagt, gewinnt. Es muss ja nicht immer gleich die Goldene Palme sein.

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