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Kultur: Bloß nicht weinen

Tanja muss nicht lange überlegen. Nach einem kurzen Rundgang durch die Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz steht ihr Entschluss fest.

Tanja muss nicht lange überlegen. Nach einem kurzen Rundgang durch die Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz steht ihr Entschluss fest. Das Foto eines traurig blickenden Kindes hat die 17-Jährige am meisten beeindruckt. In zerlumpter Kleidung sitzt ein Junge bettelnd am Straßenrand, eine Mütze mit ein paar Münzen vor seinen dünnen Beinchen. Über diese Aufnahme, aufgenommen in einem polnischen Ghetto, will sie den Mitschülern der Zehlendorfer Wilma-Rudolph-Oberschule etwas erzählen. Also stellt sich die junge Frau mit den langen blonden Haaren in Raum 4 vor das Bild, liest die dazu gehörenden Texttafeln und macht sich für ihren kleinen Vortrag Notizen. Doch Tanja interessiert nicht nur die Vergangenheit: "Für mich hat das Bild auch einen aktuellen Bezug. Heute leben ja immer noch viele Kinder in Armut und leiden."

Gedenkstättenchef Norbert Kampe würden diese Worte freuen. Solidarität mit den Opfern im Haus der Täter, den Bezug zur Gegenwart herstellen - genau das sind die Dinge, auf die seine Mitarbeiter in ihren kostenlosen Führungen und Seminaren großen Wert legen. Pädagogische Kärnerarbeit nennt das Kampe, der seit 1996 die weit über Deutschland hinaus bekannte Bildungseinrichtung am Ufer des Zehlendorfer Wannsees leitet. Jeder, der schon einmal versucht hat, jungen Menschen die Schrecken der Judenverfolgung nahe zu bringen, weiß, wie schwer es ist, von der abstrakten Historie auf menschliche Schicksale zu schließen - und umgekehrt. Deshalb setzt Kampe auf selbst entwickelte Konzepte. Was zum Beispiel Tanja und ihre Klasse einen Vormittag lang ausprobieren, heißt im Sprachgebrauch des Hauses "Selbstführung".

Das Prinzip ist überzeugend einfach: Die Klassen bekommen zunächst von einem der 25 freien und 15 festangestellten Mitarbeiter eine allgemeine Einführung über die Bedeutung des Hauses und die Verfolgung der Juden. Dann werden die Schüler in Dreier- bis Fünfergruppen aufgeteilt. Jede bekommt die Aufgabe, sich ein Thema auszusuchen, über das sie den anderen berichten wollen: Vorkriegszeit, Diktatur in Deutschland, Deportationen, Leben im KZ, Massenerschießungen und Befreiung. Bis zu fünf Minuten haben sie dafür Zeit.

Mit diesem Angebot hat das Haus der Wannsee-Konferenz in den vergangenen drei Jahren gute Erfahrungen gemacht. "Wer selbst aktiv wird und durch die Räume führt, ist auch gespannt, wie das die Mitschüler machen", sagt Kampe. Allerdings warnt er davor, in der Gruppenarbeit ein Allheilmittel gegen mangelndes historisches Wissen zu sehen. "Wir sind kein Ersatz für die Schule." Bei einem bescheidenen Etat von 1,25 Millionen Euro im Jahr sind die Spielräume ohnehin begrenzt.

Dass das Haus am Wannsee-Ufer dennoch so intensiv auf Jugendliche eingeht, kommt nicht von ungefähr. Sechzig Prozent der Besucher sind junge Leute. Insgesamt informieren sich hier jährlich bis zu 60 000 Menschen über den Holocaust, ein Drittel kommt aus dem Ausland. In diesem Jahr werden es womöglich noch ein paar mehr sein. Denn heute vor sechzig Jahren trafen sich 15 hochrangige Vertreter der SS, der NSDAP und verschiedener Ministerien in der ehemaligen Industriellenvilla. Rund anderthalb Stunden nahmen sich die Herren auf Einladung Reinhard Heydrichs Zeit, des Leiters des Reichssicherheitshauptamtes, um über die Koordination der Ermordung von elf Millionen europäischen Juden zu sprechen. Worauf sie sich am 20. Januar einigten, wurde später in bürokratisch verklausulierter Sprache im berüchtigten Wannsee-Protokoll festgehalten.

Trotz der besonderen Bedeutung der 1913 erbauten Villa mit Blumengarten für die Geschichte des Genozids tat sich nach dem Krieg herzlich wenig in Sachen Erinnerungsort. Das einstige SS-Gästehaus diente ab 1947 als Heimvolkshochschule der Berliner SPD. Später nutzte der Bezirk Neukölln das Gebäude als Schullandheim. Erst Ende der achtziger Jahre gingen Berlin und der Bund nach langem Hick-Hack schließlich daran, die Villa als Gedenkstätte herzurichten. Eröffnet wurde sie am 20. Januar 1992 anlässlich des 50. Jahrestages der Wannsee-Konferenz. Mit viel Prominenz. Heinz Galinski, Präsident des Zentralrats der Juden, zitierte Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel: "Weinen? Hier darf nicht geweint werden! Wenn man anfängt, hört man nicht wieder auf."

Eine treffende Einschätzung. Denn das unsichtbare Grauen des Schauplatzes ist auch in den vergangenen zehn Jahren nicht gewichen. Wer das Haus betritt, dem fällt sogleich eine beklemende Stille auf. Viele Besucher unterhalten sich nur flüsternd. Das Geschehen von einst, schlägt einem auch heute noch arg aufs Gemüt.

Selbst Norbert Kampe geht das so. Seit mehr als fünf Jahren leitet der 53-Jährige die Einrichtung. Doch immer, wenn der groß gewachsene Mann zu Beginn des Arbeitstages in sein Büro im zweiten Stock läuft, verstört ihn die Zwiespältigkeit des Gebäudes. "Eigentlich ist das ja ein idyllischer Ort, so direkt am Wasser. Nett hier, denkt man. Aber man weiß eben auch, dass hier 15 Männer kaltblütig über den Tod von elf Millionen Menschen verhandelten." Da fragt sich sogar Norbert Kampe, der sich seit Jahren professionel mit der Geschichte des Holocaust beschäftigt: "Wie können Menschen moralisch nur so abstumpfen." Womöglich fragen sich das auch seine Zuhörer, wenn er alljährlich am 20. Januar über die Wannsee-Konferenz referiert - im selben Raum, in dem Heydrich, Adolf Eichmann oder Wilhelm Stuckart, Staatssekretär im Innenministerium, Martin Luther vom Auswärtigen Amt, Gestapo-Chef Heinrich Müller und andere 1942 gemütlich beisammen saßen.

Eichmann, der als Chef-Logistiker über den Transport der Juden in die Vernichtungslager wachte, beteuerte später, nur Befehle ausgeführt zu haben. Wie schnell wird man Teil eines Unrechtsstaates? Dieser Frage widmen sich berufspezifische Seminare. So erfahren Finanzbeamte, wie sich ihre Kollegen im Dritten Reich an der Enteignung der Juden beteiligten. Einige taten es aus Überzeugung oder aus Habgier. Andere machten einfach nur ihren Job. Für die Opfer interessierte sich kaum jemand. Auch nicht, als Millionen deportiert wurden. Wie der bettelnde Junge auf dem Bild, das Tanja so bewegt.

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