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Neunter Frühling: Bob Dylan zwei Tage vor seinem Berliner Konzert in England. In Berlin waren Fotografen nicht zugelassen.

©  Reuters

Bob Dylan in Berlin: Ich kann auch nett sein

Gute Laune, Schmerz und Liebestrauer: Bob Dylans fantastischer Auftritt in der Zitadelle Spandau.

Der kleine Junge hat ein neues Spielzeug bekommen. Und wie das so ist, wenn ein Neuankömmling in das Kinderzimmer eingebaut wird, verschiebt sich die Ordnung, alles richtet sich nach der jüngsten Errungenschaft. Das kann schwierig werden, wenn die alten Sachen plötzlich nicht mehr so viel zählen, sich zurückgesetzt fühlen. Oder große Freude stellt sich ein, denn das missing link ist vom Himmel gefallen, und alle haben großen Spaß.

Nur: In dieser Geschichte ist der Junge 71 Jahre alt, ein faltiger Hänfling mit wuschigem Haar und breitkrempigem Hut, der in seiner 50-jährigen Karriere zigtausend Konzerte vergoldet und versemmelt hat, und bei dem neuen Spielgerät handelt es sich um ein Grand Piano, einen großen schwarzen Flügel. Und darauf klimpert und klampert, klingelt und jingelt das Männchen herum, dass es eine Lust ist – als wär’s das Rumpelstilzchen, das in einem Batman-Film den Joker gibt. Sieht er nicht auch ein bisschen aus wie Gustav von Aschenbach, also „Tod in Venedig“? Wie ein Mime der Commedia dell’Arte, der zu viel von Brechts Verfremdungseffekt genascht hat?

Und überhaupt: Irgendetwas ist passiert mit Bob Dylan. Er steht auf der Bühne in der Spandauer Zitadelle, das Konzert beginnt mit halbstündiger Verspätung (was sonst nie vorkommt), und nichts mehr erinnert an das Desaster vom vergangenen Herbst, als ein übellauniger, heiserer Hundesänger mit krachender Kapelle im Rücken die Fans aus der 02-World trieb. Aber die Musiker sind immer noch dieselben, man sieht es ja, sie sind es seit vielen Jahren. Allein der Mann mit der Mundharmonika hat eine wundersame Verwandlung durchlaufen. Die Stimme klingt fest, ironisch, zeigt sich sehr modulationsfreudig, die ganze Körpersprache ist wie ausgetauscht. Die Band hat einen guten, leichtgängigen Tag erwischt, man merkt es sogleich.

Dylan beginnt locker mit einem lustigen „Leopard Skin Pill Box Hat“, da hat er noch die Sonnenbrille auf, die ein paar Songs später verschwindet. Von da an grinst er ins Auditorium, bleckt die Zähne, und selbst wenn er an seinem neuen schwarzen Flügel sitzt, dreht er sich immer wieder zum Publikum hin, fasst sich an die Brust oder den Bauchansatz, als wollte er sagen: „Seht her, ich bin es“. Oder „ich bin der Neue“? Oder: „Hab ich nicht irre Lieder geschrieben all die Zeit, und heute will ich euch mal richtig schön was singen, spielen, blasen“. Das böse „It Ain’t Me, Babe“ kehrt sich ins Positive: Ich kann auch nett sein. Mit Wonne artikuliert er „Things Have Changed“.

Stimmt. Was haben sie bloß mit ihm gemacht? Eine neue Liebe? Es soll ein neues Studioalbum unterwegs sein. Der achte oder neunte Frühling? Er kommt so grandios in Fahrt, dass selbst eine durchschnittliche Komposition wie „The Levee’s Gonna Break“ zur fröhlich-apokalyptischen Nummer wird. Und das steigert sich in eine „Desolation Row“ hinein, wo Dylan all seine Stimmlagen durchprobiert, bis zum Refrain im leichtsinnigen Sound eines alten englischen Kinderlieds. Er hat kaum die mysteriösen Worte „or else expecting rain“ ausgesprochen, da fallen die ersten schweren Tropfen. Die zweite Hälfte der zwei Stunden wird nass.

Immer wieder dieses Grinsen. Raum für Interpretation. So also sieht es aus, wenn er sich amüsiert. Aber ist es nicht der pure Sarkasmus („Highway 61 Revisited“), ist es nicht vielmehr Schmerz, Liebestrauer, Gefühlsabwehr? „Love Sick“ gerät zur Hymne schwerer Sehnsuchtsqualen und Flüche, die in dem Geständnis münden: „Just don’t know what to do / I’d give anything to be with you.“ Für „Simple Twist of Fate“, das aus ähnlich hartem Schicksalsholz geschnitzt ist, hat er sich die Gitarre umgehängt. Dylan ist viel unterwegs in diesem verblüffenden Konzert – zwischen Flügel, Gitarren, elektronischem Keyboard. Er steht am Mikrofon, an der Rampe, posierend, Ruhe ausstrahlend, wie ich es in so manchem Auftritt seit 1978, als er das erste Mal nach Deutschland kam, noch nicht erlebt habe.

Sicher, da ist die endlose Routine. Aber sie legt auch den poetischen Glutkern frei, Zeitliches schleift sich ab. „Ballad of a Thin Man“ schrammt an der Genialität dieser existenzialistischen Ode vorbei, „Like a Rolling Stone“ ist o. k., „All Along the Watchtower“ wieder bissiger. Ach ja, und die eingeregneten Fans bekommen auch noch eine Zugabe: „Blowin’ in the Wind“. Es klingt jetzt sehr versöhnlich, war aber nie ein schroffer Protestsong.

Es ist ein seltsamer Gedanke, dass wenige Kilometer von der Zitadelle entfernt Nazi-Verbrecher wie Heß und Speer inhaftiert waren. Hat direkt nicht viel mit Dylan zu tun. Zeigt aber, wie lange er schon Geschichte schreibt, der Sohn jüdischer Auswanderer aus Osteuropa. Bob Dylan, Robert Zimmerman, sein Golem, wer immer am Montagabend in Spandau so triumphal grinste: Er war fantastisch!

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