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Bolaños „Lumpenroman“: Berstende Fenster

Vom Licht ins Dunkel und zurück: Roberto Bolaños „Lumpenroman“

Es beginnt in diesem kleinen, aber großartigen Buch von Roberto Bolaño mit einem großen Unglück, das das Leben der jungen Bianca und ihres Bruders komplett verändert. Ihr Leben fängt noch einmal ganz von vorn an, aber das in einem hellen, grellen Licht. Sie verlieren in der Nähe von Neapel ihre Eltern bei einem Autounfall, und „von dem Moment veränderten sich die Tage“, wie Bolaño seine Ich-Erzählerin sagen lässt: „Auf einmal gab es keine Nacht mehr und alles war ein Dauerzustand von Sonne und Licht. Anfangs dachte ich, das käme von der Müdigkeit, von dem Schock, den das plötzliche Verschwinden unserer Eltern bewirkt hatte, aber als ich meinem Bruder davon erzählte, sagte er, ihm gehe es genauso. Sonne, Licht und berstende Fenster. Da dachte ich, wir würden sterben.“

Sie sterben aber nicht, sondern leben zunächst so weiter wie zuvor, um sich dann Schritt für Schritt in die dunklen Zonen des Daseins vorzutasten. Zuerst kommt das Fernsehen und der ganze Schund, den es dort zu sehen gibt, dann zwei mysteriöse, anscheinend nichts Gutes im Schilde führende Freunde des Bruders, die nur „der Bologneser“ und „der Libyer“ heißen, schließlich der Sex, den Bianca mit den beiden hat, mal einigermaßen lustvoll, zumeist aber mechanisch und immer ohne Liebe. Und am Ende der große, verbrecherische Plan, den die vier aushecken: Sie wollen an den Tresor des einst berühmten, inzwischen erblindeten Bodybuilders Giovanni Dellacroce, genannt Maciste, Dafür wird Bianca vorgeschickt, sie soll sein Vertrauen erwerben, bei ihm wohnen und mit ihm schlafen.

So merkwürdig, wie hier zu Beginn gewissermaßen das Licht ward, die Welt noch einmal neu erschaffen wird und doch auf ewig nur ein Höllenfeuer brennt, so seltsam, immer einen Tick neben der Spur verhalten sich alle Personen in dieser Novelle, die der 2003 an einer Leberzirrhose verstorbene chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño „Lumpenroman“ genannt hat. Wie in seinem nachgelassenen, 2009 ins Deutsche übertragenen Meister- und Großwerk „2666“ ist im „Lumpenroman“ die Sprache eine auffallend schlichte – und trotzdem schafft es Bolaño in diesem „Novellchen“ („una novelita lumpen“ heißt das 2002 noch zu Lebzeiten Bolaños veröffentlichte Buch), dass man sich bei der Lektüre oft wundert: Wer ist hier eigentlich der Lump? Und den Kopf schüttelt: Warum machen der Libyer und der Bologneser bloß immer sauber in der Wohnung von Bianca und ihrem Bruder? Und man im Anschluss an die Lektüre die Welt doch wieder mit einem anderen, klareren Blick betrachtet: Sauber und hell kann trotzdem ganz schön schmutzig und düster sein.

„Eines Abends kam ich nachhause“, sagt Bianca einmal, „und es gab kein Licht“, was sie jedoch nur zu der Schlussfolgerung verleitet, dass es finanziell schlimm steht um sie alle. Oder sie füllt einen Fragebogen in einem Magazin aus und beantwortet die Frage „Wenn du jemanden töten müsstest, wenn du keine andere Wahl hättest, wen würdest du töten?“ mit dem knallharten Satz: „Jeden. Ich würde ans Fenster treten und irgendjemanden abknallen.“ Für Maciste aber entwickelt sie irgendwann Sympathie. Ist es vielleicht gar Liebe? Zudem ist der alte Blinde in seiner dunklen Villa der einzige Sehende unter den jungen, vom Licht so grell bestrahlten Menschen. Und für Bianca ist eine Woche ohne Maciste die Ewigkeit, die Vorstellung von einem Leben an seiner Seite aber das Nichts.

Man weiß dann, dass man gerade einen genauso göttlichen wie teuflischen Roman gelesen hat: die Schöpfungsgeschichte einmal anders herum, als kleine, unfeine Schweinerei, die am Ende doch noch in den Pfad der Tugend und der Erkenntnis mündet: „Damals erkannte ich ohne Zweifel, dass ich nicht in ihn verliebt war“, weiß Bolaños Heldin. „Alles schien mir sonnenklar und amüsant wie eine Fernsehsendung, dennoch hätte wenig gefehlt und ich wäre an Ort und Stelle in Tränen ausgebrochen.“

Besser kann man übrigens die Leiden einer Heranwachsenden, das Leid des Heranwachsens an sich, die Qualen der Jugend gar nicht beschreiben. Dieser Lumpenroman ist auch ein Adoleszenzroman der besonderen, der grandiosen Sorte.

Roberto Bolano

Lumpenroman. Aus dem Spanischen von Christian Hansen. Carl Hanser Verlag, München 2011.

110 Seiten, 14, 90 €.

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