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Wellness an der Côte d’Azur? Nein, diese Poolszene stammt aus Paolo Sorrentinos „Youth“, der in den Alpen spielt.

© Festival de Cannes

Bonjour Cannes (12): Zerstreuung in der Parallelwelt

Viel Weltflucht, wenig Politik: Jan-Schulz Ojala zieht eine Bilanz des Filmfestivals in Cannes - kurz vor der Verleihung der Palmen an diesem Sonntagabend.

Das am seltensten gesehene Accessoire dies Jahr in Cannes? Der Schulranzen. Zwar nicht in speckigem Hellbraun, sondern leuchtend azurblau ähnelt die zehntausendfach ausgegebene Festivaltasche jenem schnallenschnappenden Ungeheuer, dessen dahinranzende Butterbrote einst dem Mappeninneren ihren Geruch einprägten – total unstylish, die Dinger, verglichen mit den heutigen popbunt abwaschbaren Scouts. Zudem erwies sich der Cannes-Ranzen als viel zu klein für die täglich neu hineinzustopfenden Papiere – und wer lässt sich überdies schon gerne an die ferne Erstklässler-Vergangenheit erinnern? Also verschwand das Ränzchen aus dem öffentlichen Raum, ratzfatz.

Nun aber, da nach Sichtung und Vernichtung von tonnenweise Trade Papers und Presseheften die Tasche wieder in den Blick gerät, scheint sie streng zu mahnen: Was hast du aus diesem Cannes-Jahrgang gelernt? Auf den ersten Blick nicht viel mehr, als in den Ranzen passt. Zum Beispiel, dass ein durchwachsener Jahrgang ein durchwachsener Jahrgang bleibt, da mögen noch so viele – über 1800 – Filme beim unangefochten prestigeträchtigsten Filmfestival der Welt eingereicht worden sein. Sind die besten Filmkünstler gerade nicht in Topform und reift auch der Nachwuchs noch nicht ins Grandiose heran, dann ergeben eben selbst die – inklusive aller Nebenreihen – 103 Filme an der Croisette keinen Grand Cru.

Cannes enttäuscht mit mittelprächtigen Streifen aus Frankreich

So lapidar würde wohl gern die Festivalleitung um den „Generaldelegierten“ Thierry Frémaux und den als Gilles-Jacob-Nachfolger neu bestallten Präsidenten Pierre Lescure die Malaise gedeutet und weggeheftet sehen. Nur führte sie zu weiteren Misshelligkeiten. Etwa zu dem ungesunden Rekord, dass ein knappes Viertel der Wettbewerbsfilme mit Titel aus Frankreich gefüllt wurde – ein eindeutiges Symptom dafür, dass die Festivalmacher selber mit dem Gesamtniveau der Einreichungen nicht glücklich waren.

Folge des Ungleichgewichts: Die internationale Kritik schaute argwöhnisch auf jeden Film, den sie zu Unrecht in die Nebenreihen verbannt sah. Und wurde mühelos fündig: Apichatpong Weerasethakuls hinreißend meditativer „Cemetery of Splendour“ aus Thailand etwa hätte ebenso in den Wettbewerb gepasst wie „The Treasure“ des Rumänen Corneliu Porumboiu: Zwei Männer in sozial prekären Verhältnissen graben in einem Dorfgarten nach einem Schatz, und das filmische Ergebnis ist so realistisch wie märchenhaft – und auf souverän coole Weise heiter.

Vor allem aber tat das Festival, und das dürfte intern und filmpolitisch nachhaltiger schmerzen, den eher mittelprächtigen französischen Filmen keinen Gefallen. Besonders die heimische Kritik nahm etwa Maïwenns Liebesbewältigungsdrama „Mon roi“ oder Valérie Donzellis Inzestmärchen „Marguerite & Julien“ erbarmungslos auseinander. Dass die Verrisse ausgerechnet die beiden einzigen von Regisseurinnen gedrehten Wettbewerbsbeiträge trafen, ließ einen schon durch Emmanuelle Bercots zur Eröffnung außer Konkurrenz gezeigten „La tête haute“ genährten Verdacht weiter schwelen: Hatte die durch stete Quotendebatten provozierte – männliche – Festivalleitung bei den „Frauenfilmen“ etwa deren spezifische ästhetische Angreifbarkeit billigend in Kauf genommen?

Schande über jeden, der so niederträchtig denkt! Schließlich ging nicht nur Gus van Sants esoterische Selbstmörder-Elegie „The Sea of Trees“ noch dramatischer unter – der Start des Films wurde nach dem Debakel erstmal weltweit verschoben –, sondern die sonstige männliche Konkurrenz schwächelte überhaupt. Viele eskapistische Stoffe, darunter Matteo Garrones „Pentameron“-Märchenverfilmung „Tale of Tales“, verstopften den Wettbewerb, und auch Filme, die sich keinen Deut über Genre-Grenzen hinaus bewegten, gehören in diese Kategorie. Denis Villeneuves „Sicario“ wirft im heftig anschwellenden Subgenre des mexikanischen Drogenthrillers bloß erneut die Bodycount-Maschine an, und der Australier Justin Kurzel bereichert die „Macbeth“-Legion um eine besonders laute und leere Variante, mit einem grotesk überschminkten und inspirationslos salbadernden Michael Fassbender in der Hauptrolle.

Den Weltmarkt erobern - und dem eigenen Stil treu bleiben?

Immerhin vielgeliebt unter Kritikern waren in Sachen Genre vor allem Todd Haynes’ lesbische Liebesgeschichte „Carol“ aus den frühen Fünfzigern und der im 9. Jahrhundert spielende, formal sublime chinesische Mantel-, Degen- und Liebesfilm „The Assassin“ des Taiwanesen Hou Hsiao-hsien. Ob aber eine Jury, angeführt von den grundrebellischen Coen-Brüdern und mit so angenehm unberechenbaren Charakteren wie dem kanadischen Jungregisseur Xavier Dolan und der Almodóvar-Muse Rossy de Palma, sich von der puren Lust auf Perfektion verführen lässt? Will sie Zeichen setzen, sucht sie andere Herausforderungen – auch wenn sie, wie „Libération“ giftet, hierfür wohl mehr Preise als Filme zur Verfügung hat.

Zu den Gewinnen – und vielleicht auch Gewinnern – dieses Festivals zählen jene Filme, deren Macher zwecks Eroberung des Weltmarkts erstmals in englischer Sprache drehten und dabei ihrem individuellen Stil treu blieben. Paolo Sorrentinos „Youth“ mit dem grandiosen Darstellerpaar Michael Caine und Harvey Keitel in einem Zauberberghotel voller seltsamer Gäste gehört unbedingt dazu, auch wenn der Film mit seinen hinzugetupften Nebenhandlungen weniger kohärent sein mag als sein Oscar-Erfolg „La grande bellezza“. Aber hat Fellini, Sorrentinos Kreativ-Pate, seine großen und auch kleineren Filme je sauber heruntererzählt?

Noch gewagter als diese Etüde über das hohe Alter legte der stets seltsame Seelenuniversen erfindende Grieche Yorgos Lanthimos „The Lobster“ an, ebenfalls in einem Berghotel, und ebenfalls mit Rachel Weisz in einer starken Nebenrolle. Seine diszipliniert ausgebreitete Dystopie erzählt vom Zwang zur heterosexuellen Paarbildung und zugleich von der Einsamkeit als lebensgefährlich stigmatisierender Krankheit, wie sie die modernen Gesellschaften befällt, allen sozialen Netzwerken zum Trotz. Dabei schaut Lanthimos ohne glatt moralischen Standpunkt auf diese Normen und inspirierte damit in Cannes zu Dechiffrierungsdebatten wie kaum ein anderer.

Am Sonntagabend werden in Cannes die Palmen vergeben

Auch der mit Lars von Trier fern verwandte Norweger Joachim Trier, der 2006 mit seinem Debüt „Reprise“ verzückte und fünf Jahre später mit „Oslo, 31. August“ von der Kritik entdeckt wurde, passt in dieser Reihe. „Louder Than Bombs“ mit Gabriel Byrne, Isabelle Huppert, Jesse Eisenberg und der Neuentdeckung Devin Druid erzählt von einem durch den Selbstmord der Mutter erschüttertes Familienensemble und der nach Jahren sehr langsamen Annäherung zwischen dem Vater und den Söhnen. In Cannes lief der Film, vielleicht auch wegen des bewusst gesetzten Mangels an greifbaren Identifikationsfiguren, unter dem kollektiven Aufmerksamkeitsradar – und wirkt zugleich als minimalistische Trauerarbeit lange nach, gehalten in perfekter Balance.

Unmittelbar sozial und politisch relevante Filme dagegen hatten es dieses Jahr schwer in Cannes. Suchen nicht nur die Zuschauer, sondern auch die Spielfilmregisseure immer stärker Zerstreuung in Parallelwelten, angesichts so vieler global erkannter und dennoch unlösbar erscheinender Weltprobleme? Im Wettbewerb spielten nur Jacques Audiards Tamilen Flüchtlingsdrama „Dheepan“, Stéphane Brizés Langzeitarbeitslosen-Demütigungsstudie „La loi du marché“ und die Beobachtung des Zerfalls einer chinesischen Familie unter den Bedingungen des Kapitalismus, „Mountains May Depart“ von Jia Zhang-ke, in dieser Liga. Geradlinige Chronologien, ein fest geschnürter roter Faden, auch das Geländer einer eindeutigen Moral prägen diese respektablen Filme. Nur muten sie seltsam gestrig an, verglichen etwa mit der Freiheit, in der „Youth“ oder „The Lobster“ über ihr Material verfügen.

Am Sonntagabend werden die Goldene Palme und sieben weitere Preise vergeben; die Spannung hält sich insofern in Grenzen, als das Festival jenes spezifische Fieber vermissen lässt, wie es zuletzt etwa Michael Hanekes „Amour“ oder „Blau ist eine warme Farbe“ von Abdel Kechiche auslösten. Aber wozu womöglich gar erkenntnistrübender Vorfreudetaumel? Halten wir uns lieber an das Jurymitglied Guillermo del Toro: „Ich bin hier, um zu lernen.“ Mit Festivaltasche über der Schulter, oder auch ohne.

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