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Wer keinen Partner findet, wird zum Tier. Single-Anführerin Léa Seydoux in „The Lobster“.

© Festival

Bonjour Cannes (5): Verlieben verboten

"Son of Saul" von László Nemes in Cannes: László Nemes, Yorgos Lanthimos und Gus van Sant zeigen bei den Filmfestspielen düstere Geschichtsversionen und böse Zukunftsszenarien.

Strahlend sommerlich heiß soll es werden demnächst in Cannes, was vor allem die festivalbedingt zahlreichen Saisonkräfte freuen mag, die ihr Tagwerk in Strandrestaurants und auf den Hotelterrassen verrichten. Wer allerdings beruflich die Schattenwelt des Kinosaals bevorzugt, wird von den Regisseuren dieser Welt geradewegs in die Hölle geschickt oder darf sich zumindest ersatzweise am Seelenfegefeuer wärmen. Düstere Geschichtsvisionen und böse Zukunftsszenarien sind das Sichtungsgebot der Stunde – und Trauerarbeiten in gewaltigen Irrwäldern, in die kaum ein Sonnenstrahl dringt.

Das wohl ehrgeizigste Filmprojekt überhaupt hat ein 38-jähriger Debütant zu schultern gesucht und damit den Wettbewerb erst einmal angemessen durcheinandergerüttelt. Der Ungar László Nemes reinszeniert den Tötungsalltag von Auschwitz aus der Perspektive des jüdischen Häftlings Saul Ausländer (Geza Röhrig). Saul, der im Sonderkommando Dienst tut, meint in einem nach dem Gang in die Gaskammer wundersamerweise noch atmenden Jungen seinen Sohn zu erkennen, will ihn – die Ärzte töten das Kind mit einer Spritze – vorm Krematorium retten und nach jüdischem Ritual begraben. Das ist sein einziges, riesiges, irrwitziges Ziel.

Der Hintergrund mit nackten Leichen

Ein Spielfilm also, der das Auschwitz vom Sommer und Herbst 1944 zeigen will, als dort täglich Tausende von Juden vergast und verbrannt wurden – und gleichzeitig nicht zeigen will, denn der Hintergrund mit nackten Leichen, Aschehaufen, Erschießungen an frisch ausgehobenen Gräben bleibt immer unscharf gegenüber den Juden, die vor der Gaskammer und an den Öfen schuften – und auch sie sollen bald erschossen werden, damit vom Morden bloß kein Zeuge bleibt. Sauls Gesicht meist in Nahaufnahme und das seiner Mithäftlinge im Sonderkommando sind die stets flüsternden Helden von „Son of Saul“, während die stets schreienden Deutschen überwiegend Schemen und Stimmen bleiben.

Eine klare ästhetische Entscheidung, und ein unlösbarer immanenter Widerspruch. Denn Zeigen und Nichtzeigen gleichzeitig – wie soll das gehen? Den nachstellenden Naturalismus von Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ (1993) und anderer Holocaust-Spielfilme vermeiden und trotzdem visuell scheinbar mehr wagen als Claude Lanzmann, der in seinem Überlebenden-Interviewfilm „Shoah“ (1985) rigoros auf das Archiv- und Inszenierungs-Bilderverbot setzte? Andererseits: Wie spielfilmgerechte emotionale Bewegung erzeugen, wenn Nemes’ gepeinigte Helden situationserzwungen stets extrem reduziert agieren? Es ist die – undeutlich bleibende – Kulisse allein, die das Zuschauergefühl erzeugen muss.

In „Shoah“ saß Filip Müller auf einem Sofa und sprach in die Kamera. Einer der ganz wenigen Sonderkommando-Überlebenden, die im Winter 1945 beim „Todesmarsch“ aus dem KZ flüchten konnten, erinnert sich, behutsam angestiftet von Lanzmanns Nachfragen aus dem Off. Eine der vielen unvergesslichen Szenen dieses gerade in seinem Verzicht aufs Nachspielen so überwältigend klugen Films. Alles wird vorstellbar, sichtbar durch Sprache, durch Vergegenwärtigung. Jedes erfundene Bild von Auschwitz trägt an dem anmaßenden Anspruch: „So war es.“ Filip Müller dagegen berichtet von seiner erlebten Wirklichkeit, von einer Wahrheit jenseits der Bilder.

Im Wald ist Verlieben vollends verboten

So dürfte, nach dem ersten Schock in Cannes, von Nemes’ ehrenvollem Versuch nicht viel mehr bleiben als der Beleg für die Richtigkeit des Lanzmanns-Tabus. Da hat es der Grieche Yorgos Lanthimos mit „The Lobster“ leichter. Mit dem kreativen Wagemut und der narrativen Disziplin, die ihn seit „Dogtooth“ (2009) und „Alpen“ (2011) auf die Weltkarte des Kinos katapultiert haben, entwirft er einmal mehr eine geschlossene Schreckensgesellschaft, diesmal im Gewand einer Dystopie. In einem düster backsteinfarbenen Sanatorium werden Singles mittels extrem kontrollierter sozialer und erotischer Stimulanzien binnen 45 Tagen zu heterosexuellen Paaren zusammengeführt. Wer scheitert, verwandelt sich in ein Tier seiner Wahl. Wer flieht, findet sich in den umliegenden Wäldern unter dem mindestens so strengen Regiment einer Single-Anführerin (Léa Seydoux) wieder. Denn hier ist Verlieben vollends verboten.

David (Colin Farrell) tapert als trauriger Held durch diese coole Farce, die sich mühelos als Zerrbild zeitgenössischer Gesellschaftsreglementierungen dechiffrieren lässt. Seine späte Liebesgeschichte mit einer kurzsichtigen Dunkelhaarigen (Rachel Weisz) feiert der Regisseur und Drehbuchautor folglich nicht als tränentreibende Befreiung, sondern als zartes Bündnis zweier geduckter Widerständler in den Wäldern. Knapp zwei Stunden hält Lanthimos das immer wieder überraschende Geschehen tadellos am kurzen Zügel und hört exakt dann auf, als es am schlimmsten ist. Oder fast. Oder gerade nicht. „The Lobster“ – der Hummer ist Davids Lieblingsverwandlungstier, weil er über 100 Jahre alt werden kann – dürfte den Jury-Präsidenten Joel und Ethan Coen, die ihre Zuschauer selber gerne in präzis komponierte Parallelwelten entführen, ungemein gefallen haben.

Lanthimos’ Premiere im angelsächsischen Kino, die diesmal in Cannes unter anderem Filmemacher aus Italien und Norwegen probieren, ist durch und durch gelungen. Der Amerikaner Gus van Sant dagegen hat Matthew McConaughey mal eben nach Japan mitgenommen, und dort verläuft sich sein Held dann auch. Ein Hinflug ohne Gepäck – und schnurstracks begibt sich der Physiklehrer Arthur Brennan, der unlängst seine vom Hirntumor genesene, aber in einen absurden Verkehrsunfall verwickelte Frau (Naomi Watts) verloren hat, in den Selbstmörderwald Aokigahara nahe dem Fudschijama. Dort begegnet er einem mit seinem Suizid hadernden Japaner (Ken Watanabe), und gemeinsam sucht man, trotz Stürzen in Felsspalten und Überschwemmungen in Erdlöchern, den Weg zurück ins Leben.

„The Sea of Trees“ ist einer jener Filme, in denen sehr oft „Are you okay?“ gesagt wird, bevorzugt in blutüberströmte Gesichter hinein. Und einer jener Filme, die öde zwischen Rückblenden (schlechte Ehe mit Alkoholikerin) und Gegenwart (gruselige Skelette im Zelt) wechseln. Einer jener musiksämigen Filme, bei denen sich auch großherzigste Verehrer des früheren Gus van Sant dringend zurück in den Festivaltrubel und hinaus in die Sonne wünschen. Nur ist es unterdessen Nacht geworden über Cannes. Auch nicht schlecht.

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