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Boxen: Zurück zur Urgewalt

Boxen ist zu brav und hat als Symbol ausgedient. Härterer Kampfsport passt besser in diese Welt.

Es war eines der größten Sportereignisse der letzten Zeit. Wladimir Klitschko aus der Ukraine boxte gestern Nacht in Mannheim gegen den schwarzen US-Amerikaner Hasim Rahman um die Weltmeisterschaft im Schwergewicht. Die Börse der Kämpfer lag im zweistelligen Millionenbereich, übertragen wurde in eine dreistellige Anzahl von Ländern. Der mythische Gehalt lässt sich in Zahlen allein nicht ausdrücken: Mann gegen Mann. Schwarz gegen Weiß. Amerika gegen Irgendwie-Russland. Es geht beim Boxen darum, „dem Gegner die Seele zu rauben“, wie Mike Tyson einmal gesagt hat.

Seit mindestens hundert Jahren lebt die Weltmeisterschaft im Schwergewicht von ihrer kulturellen Überhöhung. Joe Louis und Muhammad Ali, Max Schmeling und Rocky Balboa, ein Tellerwäscher und ein Millionär schienen immer mit im Ring zu stehen. Denn Boxen in dieser Gewichtsklasse zeigt den Kämpfer in seiner exponiertesten Gestalt: als schlagkräftigen Einzelnen, der sich nicht nur seines Gegners erwehren, sondern auch einem Ansturm von Erwartungen standhalten muss. Nur deshalb wird ihm gestattet, etwas zu tun, was in zivilisierten Gesellschaften verboten ist – pure physische Gewalt.

In der kommenden Woche wird in einem anderen Verband schon wieder um die Weltmeisterschaft im Schwergewicht gekämpft. In Zürich tritt der 2,15 Meter große Russe Nikolai Walujew gegen den 46 Jahre alten Ex-Weltmeister Evander Holyfield (USA) an. Auch Wladimirs Bruder Vitali Klitschko will der größte Kämpfer der Welt sein. Den WM-Gürtel eines weiteren Verbandes trägt er seit einigen Monaten wieder. Nun will er ihn verteidigen gegen seinen alten Rivalen Lennox Lewis, einen 43-jährigen Briten.

All diese Geschäftigkeit kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Boxen schon lange unter Bedeutungsverlust leidet. Zu viele Weltverbände vergeben Siegergürtel. Die letzte Helden ära – Mike Tyson, Lennox Lewis, Evander Holyfield – liegt mehr als zehn Jahre zurück. Seitdem wird das Weltboxen zusehends von Männern dominiert, die das Boxen in der UdSSR oder ihren Nachfolgerstaaten lernten. Der Mythos vom Boxen als Weg aus dem Ghetto bröckelt. Denn wie der HipHop zeigt, der parallel zum Niedergang der schwarzen Boxer-Elite seinen Aufstieg erlebte, bringen schwarze Ghettos in den USA nicht mehr Kämpfernaturen hervor, sondern Geschäftsleute. Die Klitschko-Brüder, zwei Offizierssöhne mit Doktortitel, haben höchstens in der eigenen Küche Teller gewaschen.

Das Boxen ist in der Krise, wie der Kapitalismus. Je beliebiger die Kämpfe erscheinen, je kleiner die Hallen und unattraktiver die Sendeplätze werden, desto zahlreicher wenden sich die Fans einer anderen, dem rüden Zeitgeist angemesseneren Kampfsportart zu, die all das zu geben scheint, was das Boxen eingebüßt hat: dem Mixed Martial Arts Fighting (MMA). Dessen Veranstaltungen führen verschiedenste Kampfsportler in einen Ring: Karateka und Kickboxer, Sumotori, Judoka, Boxer und andere. Wer ist der Beste, wenn wie auf den Finanzmärkten keine Regeln gelten? Meist sind die Runden auf fünf Minuten begrenzt. Haareziehen, Beißen, gezielte Stiche in die Augen und einige andere Techniken sind verboten, ansonsten ist fast alles erlaubt. In diesem Jahr haben die Umsätze solcher Kämpfe das Volumen der Boxsportverbände übertroffen.

Die Mixed Martial Arts begannen ihren Aufstieg, als die Baisse des Boxens sich noch nicht abzeichnete. 1985 erschien „Rocky IV – Der Kampf des Jahrhunderts“ auf der Leinwand, in dem Sylvester Stallone als Rocky Balboa in Moskau gegen Ivan Drago (Dolph Lundgren) stellvertretend die UdSSR besiegte. 1988 wurde jener Film gedreht, auf den sich die MMA-Freunde bis heute berufen: Der zeitweise indizierte „Bloodsport“ mit Jean Claude van Damme in der Hauptrolle.

Mit dem Ende des Ostblocks ging auch Rockys Märchenland unter. Die Welt war nicht mehr zweigeteilt, sie wurde unsicherer und komplexer. Die Auswirkungen erkennt man erst jetzt, in der globalen Finanzkrise, in ihrer ganzen Dimension. Die neue Unübersichtlichkeit befördert das gemischte Prügeln. Warum nur die Fäuste benutzen? Warum nicht treten und unter den Gürtel schlagen, wenn die Gegner plötzlich so zahlreich sind? Und warum sich nicht Helden wählen, die den Kämpfern in den immer realistischer gestalteten Videospielen viel ähnlicher sind als die braven Boxer? In dieser Stimmung griffen die Mixed Martial Arts à la „Fightclub“ zunächst auf die USA, dann auf die ganze Welt über.

Ein Blick in die Sporthistorie, die immer auch Gesellschaftsgeschichte ist, zeigt interessante Parallelen auf. So neu ist MMA nicht. Den Allkampf, das Pankration, gab es bereits in den antiken olympischen Spielen. 648 v. Chr. wurde diese Disziplin ins Programm aufgenommen. Damals schon stellte sich die Frage, ob der Faustkampf oder das Ringen stärker sei. Die Kämpfe dauerten bis zur Aufgabe eines Kontrahenten. Die griechische Mythologie führt das Pankration auf den Kampf zwischen Herkules und Theseus zurück. Und im Vergleich zu Herkules sieht sogar Nikolai Walujev schmächtig aus.

Dabei ist der Drei-Zentner-Koloss Walujew als schwerfällige, aber freundlich lächelnde Biomasse das Äußerste dessen, was innerhalb des Box-Regelkanons möglich ist. Das gibt ihm immerhin etwas Verlässliches und zugleich Anachronistisches – in einer Welt der Börsencrashs und Massenentlassungen, in der Finanzjongleure wie Einzelkämpfer ohne Regeln immer neue Anlagetechniken in den Ring geworfen haben. In Krisenzeiten wächst auch im Sport die Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Vier Fäuste – und vier Füße – für ein Halleluja.

Knud Kohr

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