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Kultur: Brasilien! Brasilien!

Fridas Kinder, Diegos Enkel: Befeuert von Erfolgsgalerien und Großsammlern erobern Künstler aus Lateinamerika den Markt

Wie Nachtschattengewächse stehen sie im Raum, ein Wald dünner Halme auf schwankendem Boden. Wer das molluskenartige Gebilde betritt, das Ernesto Neto in der temporären Züricher Ausstellungshalle der Sammlung Daros aufgebaut hat, der geht auf dem sandgepolsterten Grund wie auf Moos und wird von Lycrafasern umarmt wie von duftenden Lianen. Ganz innen, im Schoß der wohlriechenden Grotte, versinkt man in einer weichen Matte, starrt in runde Nylonlöcher und möchte nie mehr aufstehen. So könnte das Paradies aussehen, so prall und sinnlich.

Neto, 1964 in Rio de Janeiro geboren, ist der Superstar einer mittleren Generation brasilianischer Künstler, die zusammen mit den mexikanischen Überfliegern Gabriel Orozco, 44, und Teresa Margolles, 43, sowie den Wahlmexikanern Francis Alys, 47, und Santiago Sierra, 40, für die immer bedeutendere Rolle stehen, die junge und jüngste lateinamerikanische Kunst seit der Jahrtausendwende auf dem zeitgenössischen Kunstmarkt spielt. Dabei hat sie ihren Exotikfaktor komplett verloren. Im Gegenteil: Die genannten Künstler vitalisieren derzeit zusammen mit weiteren Künstlerstars, wie der in Rio lebenden Beatriz Milhazes, 46, der 1969 in Espirito Santo geborenen Rosilene Ludovico, dem aus Bahia stammenden Marepe, 36, und der Deutschbrasilianierin Janaina Tschäpe, 34, die etablierte Kunstszene Europas und der USA. Ihre Ästhetik ist unverwechselbar, weil sie Tradition und Themen des Kontinents mit dem Formenkanon der internationalen Avantgarde verknüpft, ihre Preise bewegen sich bis weit in den sechsstelligen Bereich.

Noch bis Ende der achtziger Jahre waren es vor allem Klassiker wie Frida Kahlo und Diego Rivera in Mexiko, Alejandro Xul Solar in Argentinien, Lasar Segal in Brasilien, der Kubaner Wilfredo Lam, der Chilene Roberto Matta oder der Bolivianer Fernando Botero, deren Werke auf Auktionen zu hohen Preisen gehandelt wurden. Einheimische Galeristen existierten dagegen kaum. Anfang der siebziger Jahre, als er seine Räume in São Paolo schloss, galt Ralph Camargo als einziger international ernst zu nehmender Galerist des Landes. Auch heute konzentrieren sich in der gigantischen Metropole die Pioniergalerien, die längst an den wichtigsten Messen der Kunstwelt, wie der Art Basel und der Art Basel Miami Beach (ABMB), teilnehmen.

Raquel Arnaud und Luisa Strina zählen zu den Happy Few, die beide in den siebziger Jahren eröffneten. Außerdem Millan Antonio und Ramis Barquet, die in den achtziger Jahren hinzukamen, Marcantonio Vilaca, der Anfang der neunziger Jahre eröffnete, und dessen Galerie Fortes Vilaca heute von Márcia Fortes und Alessandra d’Aloia geführt wird, sowie Brito Cimino. Im neuen Jahrtausend stießen bisher Vermelho und Casa Triângulo dazu.

Damit übertrifft Brasilien sogar Mexiko, das 2005 sechs Galerien auf der ABMB aufweisen konnte: den 1983 gegründeten Dinosaurier OMR, Ramis Barquet, der seine Galerie 1987 eröffnete, Nina Menocal als Kind der frühen Neunziger, schließlich Enrique Guerrero, der 1997 hinzukam, und die Senkrechtstarter Monica Manzutto und José Kuri, die ihre Galerie Kurimanzotto 1999 gründeten. Newcomer ist die 2002 von Gonzalo Mendez gegründete Galerie Myto. Und die im Februar eröffnete Galeria Hilario Galguera, die ihren furiosen Einstand mit einer großen – und ausverkauften – Soloshow von Damien Hirst feierte, wird wohl ebenfalls auf der diesjährigen ABMB Anfang Dezember anzutreffen sein. Genau wie die Galerien Ruth Benzacar aus Buenos Aires, Alcuadrado aus Bogotá und Karpio aus San José – bisher die jeweils einzigen Repräsentanten ihrer Länder.

Seit ihrem Bestehen ergänzt die ABMB die angestammte Schlüsselrolle der Arco in Madrid als Brücke nach Lateinamerika, was vor allem an der iberoamerikanischen Elite Miamis liegt. Dass die Stadt neben New York und Los Angeles zu einem der wichtigsten Kunstzentren der USA aufgestiegen ist, verdankt sie maßgeblich Sammlern wie den Exilkubanern Rosa und Carlos de la Cruz oder Ella Fontanals Cisneros und ihrer Familie, die pünktlich zur Premiere der ABMB im Jahr 2002 die Cisneros Fontanals Kunststiftung (cifo) gründeten. „Noch vor vier Jahren kannte kaum jemand Sammler wie Eugenio Lopez und seine Jumex Kollektion in Mexiko City, oder Juan und Patricia Vergez aus Buenos Aires und Bernardo Paz mit seinem spektakulären Kunstzentrum Caci, dem Centro de Arte Contemporanea Inhotim bei Belo Horizonte in Brasilien“, erinnert sich die Eventkuratorin Isabela Mora. Von Madrid aus organisiert sie heute exklusive Reisen für Kunstinsider in lateinamerikanische Länder.

Vor allem in Mexiko und Brasilien hat sich eine neue Riege megareicher Sammler etabliert. Zu ihr zählen César Cervantes, Chef der mexikanischen Fast Foodkette Taco Inn, und Enrique Coppel, der einen Mischkonzern dirigiert, in dem Automobile, Möbel und Schuhe hergestellt werden, ebenso wie José Vergara, einer der erfolgreichsten mexikanischen Musikproduzenten, und der in São Paolo ansässige Ricard Akagawa, Präsident des Reiseunternehmens Tunibra Travel. Eine Sonderrolle zwischen den Kontinenten spielt der aus Zürich stammende Wirtschaftstycoon und Sammler Stephan Schmidheiny, der seine Geschäfte 1994 von Europa nach Lateinamerika verlagerte. 1995 baute er unter dem Label Daros-Services eine Kollektion nordamerikanischer Kunst auf, und 2000 gründete er die Daros-Latinamerica AG, die unter der Leitung von Hans-Michael Herzog inzwischen 1000 Werke lateinamerikanischer Kunst umfasst. Im Winter 2007 wird sie die Casa Daros eröffnen, ein 120 000 Quadratmeter großes Domizil für Sammlung und Wechselausstellungen mit Künstlerateliers und einem Bildungszentrum. Einen Vorgeschmack gibt die Züricher Ausstellung bis zum 15. Oktober, die neben Ernesto Neto auch Cildo Meireles und Valeska Soares zeigt.

Solches Engagement ergänzen Zeitschriften wie Art Nexus aus Miami und Maco, eine junge Messe für zeitgenössische Kunst in Mexiko City oder die neue Balelatina parallel zur Art Basel. Doch erst ihre enge Vernetzung mit führenden Galerien aus den USA und Europa wie Peter Kilchmann aus Zürich, den Berlinern Carlier Gebauer, Max Hetzler und Arndt & Partner oder dem Münchener Michael Zink und den Karlsruhern Meyer Riegger stabilisiert den Hot Spot Lateinamerika auf lange Sicht.

Die junge Kunst des Kontinents ist auf dem zeitgenössischen Markt begehrt wie nie, ebenso wie aktuelle Werke aus China, Korea, Japan oder Indien. Das liegt an einer gewissen Verlagerung der Kräfteverhältnisse. Nicht nur kommt derzeit die größte Kaufkraft aus solchen Regionen, auch deren kreatives Potential ist spannender denn je. Der Westen braucht beides.

Eva Karcher

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