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Brasilien: Mit dem Cello der Armut entkommen

Am Anfang haben sie über ihn bloß gelacht: ausgerechnet Beethoven und Mozart! Aber dann hat Marcos Karriere gemacht auf dem „Instituto Baccarelli“ in der größten Favela von Sao Paulo. Und ist mit seinem Cello dem Teufelskreis von Armut, Gewalt und Drogen entkommen

Es dürfte in Brasilien nicht viele Jungen geben, die ihre Adresse mit Marcos tauschen würden. „Rua de frutas“ steht auf dem blechernen Straßenschild, das schräg gegenüber von seinem Elternhaus in Heliopolis angebracht ist. Und Frutas – „sinngemäß Früchtchen“ –, erklärt der hoch aufgeschossene 20-Jährige mit grimmig zusammengezogenen Augenbrauen, nennt man hier die Schwulen. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich die Bemerkungen vorzustellen, mit denen die Jungs aus dem Viertel einen geärgert haben, der in so einer Straße wohnt. Erst recht, wenn der auch noch klassische Musik macht. Denn natürlich ist auch klassische Musik schwul, wie eben alles, was nicht dem normalen Freizeitverhalten eines Teenagers in Sao Paulos größter Favela entspricht.

Zumindest war das so, als Marcos anfing, ins Instituto Baccarelli zu gehen. Einer seiner Freunde habe deswegen sogar aufgehört, erzählt Marcos, und sei nicht mehr zu dem verrückten alten Mann gegangen, der bei ihnen um die Ecke eine Musikschule aufgemacht hatte. 1996 war der Dirigent Silvio Baccarelli nach Heliopolis gekommen, nachdem ihm der Fernsehbericht von einem Großbrand in der Favela die Vision eingegeben hatte, hier einen Ort für klassische Musik zu schaffen. Mozart und Beethoven als Ausweg aus dem Teufelskreis von Armut, Drogen und Gewalt – wenn das in Heliopolis funktionieren würde, müsste es überall auf der Welt funktionieren.

Maestro Baccarelli nervte die Bürgermeisterin jedenfalls so hartnäckig, bis sie ihm schließlich eine ausgediente Orangensaftfabrik für sein Projekt zur Verfügung stellte. Und er warb so lange in Schulen und Kirchen, bis er seine ersten 36 Schüler zusammen hatte. Bald darauf kam auch Marcos dazu: „Wir hatten damals nicht die geringste Vorstellung von klassischer Musik“, erzählt er, „als Maestro Baccarelli uns zum ersten Mal eine Geige zeigte, dachten viele, das sei eine Ukulele.“

Vor zehn Jahren fing Marcos an, erst im Chor, dann, drei Jahre später, mit dem Cello. Heute gehört er zu den Musterschülern des Instituts, ist Solocellist im institutseigenen Orchester „Sinfonica Heliopolis“, unterrichtet dort selbst schon die jüngeren Eleven und gehört zu denen, auf die man im Viertel stolz ist. Regelmäßig werden Marcos und seine Kollegen für Hochzeitsfeiern engagiert, eine gute Gelegenheit, sich zu dem bisschen Geld, das er für seine Arbeit im Institut bekommt, etwas dazuzuverdienen. Ganz davon abgesehen, dass die Anerkennung einfach gut tut und ein ganz handgreiflicher Beweis dafür ist, dass man mit Beethoven doch etwas ändern kann.

Auch das Gebäude, in dem das Institut residiert, kündet davon, wie sehr die Vision Silvio Baccarellis Wirklichkeit geworden ist. Drei Stockwerke hoch erhebt sich der blau-orange bemalte Betonbau über das Hüttengewimmel von Heliopolis, und würde sich nicht auf der Eingangsterrasse eine Handvoll Knirpse beiderlei Geschlechts die Wartezeit mit einem improvisierten Fußballmatch verkürzen, könnte man fast glauben, in einem Kloster zu sein. Ein bisschen würde das sogar stimmen, denn die Sauberkeit und die Disziplin, auf die im Baccarelli geachtet wird, sollen ja gerade eine Gegenwelt sein: ein Ort, in dem nicht Willkür und Chaos, sondern feste verlässliche Regeln das Leben bestimmen. Ein Ort auch, an dem Autorität nicht durch Gewalt, sondern durch Respekt und die Weitergabe von Wissen entsteht.

Dass es dabei um Mozart und Beethoven geht, ist am Ende vielleicht gar nicht das Entscheidende: Viele Kinder seien schon weit vor Beginn ihrer Stunden hier, um den tristen Verhältnissen daheim zu entfliehen, erzählt Marcelo Silva, der hier Horn und Trompete unterrichtet. Der massige Mann ist für viele seiner Schüler und Schülerinnen eine Art Vaterersatz – wohl, weil er selbst genau weiß, wie sich eine harte Kindheit anfühlt. Silva musste sich mit Schuheputzen über Wasser halten. So lange, bis der Direktor seiner Schule sein musikalisches Talent entdeckte und ihm wenigstens das Mitspielen in einer Band ermöglichte. „Hätte es damals schon das Baccarelli gegeben, wäre aus mir ein besserer Musiker geworden“, sagt er.

Auch im Baccarelli lässt sich der Favela-Alltag natürlich nicht ignorieren: Zwei von Silvas Schülerinnen haben eine Vergewaltigung hinter sich, frühe Schwangerschaften und Geschlechtskrankheiten sind ein Dauerthema. Erst recht, weil die Beschäftigung mit Musik die Gefühle erst richtig freisetzt und einen auch den Schmerz stärker spüren lässt. Wenn die Schüler bei ihm ein Instrument lernten, würden sie oft erst die Stimme ihres Herzens entdecken, beschreibt es Silva blumig. Tatsächlich zeigt schon die mitunter fast verbissene Ernsthaftigkeit, mit der hier an allen Ecken gefiedelt, gezupft und geblasen wird, dass es in Heliopolis um mehr geht als bloß um die Beherrschung von Instrumenten. Sondern dass hier das Musikmachen wie eine Religion ist, ein Ausblick auf ein besseres Leben.

Die Religion Beethoven hat jedenfalls in Heliopolis fast mehr Zulauf, als sie verkraften kann. Denn viele Kinder haben ihre Eltern nachgezogen: Zu Anfang kamen die Mütter, die unter dem Vorwand der Begleitung ihrer Kinder einfach auch hier sein wollten. Und seit einiger Zeit gibt es sogar einen Chor, in dem die Eltern mit ihren Kindern gemeinsam singen dürfen. Kein Wunder, dass der im letzten Jahr eingeweihte Neubau mit den Übungsräumen für 500 Schüler schon aus allen Nähten platzt. Ein weiterer Trakt mit hauseigenem Konzertsaal ist in Bau, wenn der fertig ist, sollen hier 3000 Schüler unterrichtet werden können. Die zwei Jahre Wartezeit, die man derzeit für einen Platz im Baccarelli rechnen muss, lassen vermuten, dass auch dieser Anbau sehr schnell rappelvoll sein wird.

Das Bauprojekt, die Instrumente, Noten und Lehrer – das alles braucht natürlich nicht nur Idealismus, sondern vor allem eine Menge Geld. Darum kümmert sich Gräfin Sabine Lovatelli. Die drahtige Dame, die hier alle mit ehrfürchtiger Zärtlichkeit „La Contessa“ nennen, ist Sao Paulos wichtigste Charity Lady und hat in der Stadt in den letzten drei Jahrzehnten eine Menge in Gang gebracht. Projekte über Hygiene und Sexualaufklärung sind dabei, vor allem aber hat die Contessa dafür gesorgt, dass es in Sao Paulo klassische Musik zu hören gibt. 1971 kam die Hannoveranerin mit ihrem Mann, einem brasilianischen Unternehmer, nach Sao Paulo: „Damals taten hier die Frauen nicht viel“, sagt sie, „und mir fehlte einfach die Musik.“

Auch heute ist sie schon früh im Institut und hat ein Auge darauf, dass bei dem wichtigen Pressetermin mit der Intendantin des Bonner Beethovenfestes nichts schiefgeht. Denn die Einladung, die das deutsche Festival für das Orchester des Instituts, die Sinfonica Heliopolis ausgesprochen hat, ist enorm wichtig fürs Prestige. Die erste Europareise des Orchesters Anfang Oktober ist natürlich auch ein Beweis, dass Brasilien nicht nur Rohstoffe, sondern auch kulturelle Endprodukte wie Beethoven-Sinfonien auf konkurrenzfähigem Niveau liefern kann. Das ist so gut wie bares Sponsorengeld, mit dem Noten und vor allem neue Instrumente angeschafft werden können. Denn die sind chronisch knapp. 25 Horn-Schüler beispielsweise müssen sich vier Instrumente teilen – kein Wunder, dass zu Lovatellis dringendsten Projekten eine Werkstatt gehört, in der Jugendliche vor Ort zu Instrumentenbauern ausgebildet werden.

Die Gräfin ist zwar nicht die Mutter, aber gewissermaßen die Patentante des Instituts und hat Maestro Baccarellis menschenfreundliche Gründung in den letzten fünf Jahren zielstrebig zu Brasiliens wichtigster Ausbildungsstätte für musikalischen Nachwuchs ausgebaut. Natürlich, räumt sie ein, sei „El Sistema“ auch für sie das Vorbild gewesen, das weltberühmte Klassikprojekt des Venezolaners José Antonio Abreu, in dessen Rahmen inzwischen hunderttausende Kinder klassische Instrumente lernen. „Aber was dort 30 Jahre gedauert hat, mussten wir irgendwie schneller hinkriegen.“ Sprich: kein Flächenprogramm, das den Humus für die Talente einer kommenden Generation bereitet, sondern eine gezielte Eliten- und Schwerpunktförderung mit dem Institut als Leuchtturm. Und vermutlich hätte bis heute niemand etwas von Maestro Baccarelli gehört, wenn die Gräfin dieser Vision nicht noch zwei ebenso simple wie entscheidende Dinge hinzugefügt hätte: ein Ziel und die Möglichkeiten, es zu erreichen.

Lovatelli sorgte dafür, dass das Institut auch begabten Kindern geöffnet wurde, die nicht in Heliopolis wohnten oder deren Eltern besser verdienten. Es bot für die Besten die Teilnahmemöglichkeit an Sommerkursen in Europa und Stipendien an und verpflichtet regelmäßig auch die Musiker, die im Rahmen ihrer Konzertserie auftreten, anschließend noch eine Meisterklasse für den Nachwuchs zu geben. Offenbar mit Erfolg: Denn die Talentscouts der großen Orchester beginnen langsam, auf diesen Musikerpool aufmerksam zu werden, auch in der Orchesterakademie der Berliner Philharmoniker ist schon der erste Baccarelli-Zögling vertreten.

Auch für Marcos stehen die Chancen nicht schlecht, ein Stipendium für ein Studium in Europa zu ergattern, einen Ferienkurs in Deutschland hat er schon absolvieren dürfen. Aber hinterher, verspricht er mit glühendem Ernst, will er auf jeden Fall zurückkommen. In einem brasilianischen Orchester spielen, eine Musikschule in irgendeiner Favela aufmachen – egal. Hauptsache Beethoven.

Jörg Königsdorf

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