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Kultur: Brasília - die ideale Stadt?: Rückblick auf einen utopischen Stadtentwurf und seine Bewährung in der Realität

Beim Anflug auf den Airport fällt der Blick auf das flugzeugförmige Grundmuster Brasílias. Davor der Lago Paranoá, ein riesiger aufgestauter See, der den Anschein erweckt, als läge die Stadt auf einer Halbinsel.

Beim Anflug auf den Airport fällt der Blick auf das flugzeugförmige Grundmuster Brasílias. Davor der Lago Paranoá, ein riesiger aufgestauter See, der den Anschein erweckt, als läge die Stadt auf einer Halbinsel. Man erkennt die Regierungsbauten, die zeltförmige Kathedrale. Wohnblocks reihen sich entlang der Monumentalachse wie Passagiersitze in einem Flugzeugrumpf. Noch sind die Reihen nicht vollständig. Dazwischen Farmen und Eigenheimsiedlungen. Die Bauten wirken wie Plastiken in einem gigantischen Landschaftsgarten, kunstvoll von einem Straßensystem durchzogen, als seien es Parkwege.

Selbst wenn der Anblick in der Trockenzeit wie eine Marslandschaft anmutet, ist Brasília faszinierend. Das müssen auch Kritiker wie die dort ansässige Architekturhistorikerin Sylvia Ficher gestehen. Denn die Stadt entstand als Ideal einer neuen Epoche des jungen Staates. Großzügig gebaut, frei von Armutsvierteln. Die neue Hauptstadt sollte den Wohlstand der alten Welt im erhofften Wirtschaftswunder der neuen Welt verkörpern. Das vor vierzig Jahren gebaute Brasília ist wie das Land selbst ein Chamäleon. Und vor allem ein Phänomen, wie die gestern eröffnete Ausstellung "Brasília - Architektur der Moderne in Brasilien" in der ifa-Galerie Berlin zeigt.

Nach nur vier Jahren Bauzeit konnte die brasilianische Regierung 1960 ihre neue Hauptstadt beziehen. Rio de Janiero, das seit der Unabhängigkeit von seinem ehemaligen Kolonialherren Portugal 1822 den jungen Staat repräsentierte, hatte ausgedient. Die Atlantikmetropole war nicht mehr zeitgemäß für einen Staat, der den Quantensprung vom Entwicklungsland in die Riege der Wirtschaftsmächte vollziehen wollte. Als vordringlichste Ziele hatte Präsident Juscelino Kubitschek de Oliveira, der seit 1956 das Land regierte, die Industrialisierung und Elektrifizierung sowie den Bau von Transportwegen ins Auge gefasst. Brasília stand für das neue Brasilien: dynamisch, jung, optimistisch, technikgläubig. Was da "binnen eines Wimpernschlags der Geschichte" unter der Federführung des Städteplaners Lúcio Costa, dem Architekten Oscar Niemeyer sowie dem Landschaftsarchitekten Roberto Burle Marx geschaffen wurde, ist eine einzigartige Hommage an die Stadtlandschaft als Gegenentwurf der Moderne zur traditionellen Bürgerstadt. Nirgendwo sonst wurde die "Charta von Athen", das 1943 von Le Corbusier veröffentlichte Manifest, so konsequent umgesetzt.

Alles ist "monumental, menschlich, einfach, grandios, asketisch in der Reinheit seiner Formen, die auf das Nötigste reduziert wurden", schrieb Lúcio Costa 1968. "Volks-Versailles" nannte der Stadtplaner die neue Civitas. Eine neue Gesellschaft in neue Gehäuse zu stecken, "Unüberschaubares, Maßstabloses in übersehbare, maßvolle Teile aufzugliedern und diese Teile so zueinander zu ordnen, wie Wald, Wiese, Berg und See in einer schönen Landschaft zusammenwirken" wie es Hans Scharoun formulierte, wurde hier prototypisch entfaltet. Der Gegensatz von Stadt und Land ist aufgehoben. Wohnen, Arbeiten und Erholung liegen nahe beieinander. Wer in Brasília lebt, steht vor seiner Wohnung in fast jedem Stadtteil sofort im Grünen. Zugleich ist man von einer Infrastruktur umgeben, die es vom Einkauf bis zur medizinischen Versorgung an nichts fehlen lässt. Vieles erinnert dabei an die utopischen Projektionen Frank Lloyd Wrights "Lebendiger Stadt", die er als Vision für eine neue Form gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Harmonie von Mensch und Natur konzipierte. Die Hauptstadt des Amazonasstaates ist somit ein einzigartiges Beispiel dafür, wie die Moderne mit der Auflösung der Stadt in der Landschaft bis ins 19. Jahrhundert hinein privilegierte Lebensverhältnisse jedem zugute kommen ließ. Freilich "ohne die persönliche oder politische Eitelkeit der Renaissance", wie Costa schrieb.

Der Unesco gefiel Costas "Plano Piloto" so gut, dass sie dieses weltweit einmalige Gesamtkunstwerk des "Neuen Bauens" 1987 zum Weltkulturerbe erklärte. Die architektonische Offenheit wurde in der neuen Hauptstadt beim Wort genommen. Während der Militärdiktatur, als Brasília entstand, konnte jeder ein Ministerium betreten. Selbst das Heereshauptquartier war öffentlich zugänglich; dem Parlament konnte man regelrecht "aufs Dach steigen". Darin lag das "Besondere, das Zukunftsweisende", schreibt der Architekturhistoriker Alexander Fils. Schon verrückt, dass die Utopie einer neuen Gesellschaft ausgerechnet in der alten zu erleben war und nicht mehr reine Schwärmerei blieb.

Heute, vierzig Jahre später, hat ausgerechnet die Demokratie diese Offenheit abgeschafft und schotte sich in ihrem Sicherheitsbedürfnis nach außen ab. Eine groteske Entwicklung: Mittlerweile ist das Eldorado ein widersprüchliches Gebilde. Während die Wohlhabenden in der Stadt wohnen, wabern in sicherem Abstand um das von einem Grüngürtel umgebene Weltkulturerbe die Trabantenstädte für die ärmere Bevölkerung. Alles gezielt durch staatliche Bodenspekulation gesteuert. So wird der Schein einer "Stadt ohne soziale Konflikte", die aufrechterhalten. Wie lange noch? Längst hat die für eine halbe Million Bewohner geplante Hauptstadt zwei Millionen Bewohner; der Zustrom hält unvermindert an. Denn die Lebensqualität in Brasília ist gut, und das macht es attraktiv, hinzuziehen, auch wenn das autogrechte Stadtmodell sich im Alltagsstau ständig selbst überlistet. Gleichzeitig lässt der Betrieb einer gebauten Stadtbahn und U-Bahn auf sich warten.

Dass die neue Hauptstadt ein stadtplanerisches Fiasko sei, hatte sich schon 1968 Masterplaner Lúcio Costa anhören müssen. Brasília, das sei eben eine Stadt "mit Problemen, die im Grunde genommen die Widersprüche und Probleme des Landes selbst sind", reagierte er. Eine Stadt, die wie jede andere lebt und die Spannung zwischen Wunschtraum und Wirklichkeit der Gesellschaft, jeden Tag von neuem aushalten muss und täglich neu, anders und nie fertig wird. Im Unterschied zu den Idealstädten der Renaissance, dem norditalienischen Sabbioneta oder Palmanova. Die haben sich quasi selbst konserviert.

Ansgar Oswald

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