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Kultur: Bratwurstbiss

„Lö Bal Almanya“ im Ballhaus Naunynstraße

„Die deutschen Frauen werden höflich und nett zu euch sein, weil sie das Heldentum des Türken lieben“, heißt es so schön. Dann folgt der Zusatz: „Das dürft ihr nicht missverstehen.“ Aber natürlich beginnen die Missverständnisse hier. In dieser Broschüre der Türkischen Anstalt für Arbeit und Arbeitsvermittlung von 1963, die über die Mentalität der Alemannen nicht eben vollständig im Bilde war. Und erst recht nicht in der Bundesrepublik Deutschland, wo man tausende sogenannter Gastarbeiter ins Land holte und fassungslos war, dass diese nach getaner Arbeit nicht einfach still verschwanden. Das Resultat davon kann man heute, fast fünfzig Jahre später, in Form einer geisteskranken Integrationsdebatte bestaunen.

„Lö Bal Almanya“ haben Nurkan Erpulat und Tunÿay Kulaoÿlu ihr musikalisches Schauspiel getauft, das nun am Ballhaus Naunynstraße die Geschichte der Arbeitsmigration in Deutschland Revue passieren lässt, an prägnanten Eckdaten entlang erzählt wie der Feier des einmillionsten Gastarbeiters oder den Brandanschlägen von Solingen und Mölln nach der Wende. Als fernes Vorbild schimmert Ettore Scolas „Le Bal“ durch, dieser opulente Stummfilmbilderbogen, der fünf Jahrzehnte französischer Geschichte im Spiegel eines Tanzsaals und im Wechsel der Kostüme zeigte. Bei Regisseur Erpulat geht es sarkastischer, sangesfreudiger zu. Das Bühnenbild von Justus Saretz zeigt eine nostalgische Ballsaal-Kulisse, in der das famose neunköpfige Ensemble als melancholische Pantoffelgesellschaft in bester Marthaler-Manier zunächst stumm verharrt. Bis Pianist Tobias Schwencke mit der Zeile „Unrasiert und fern der Heimat“ auftaktet.

Im Laufe des Abends weicht die Volksliedwohligkeit indes immer mehr der Überfremdungsangst, im Porträtrahmen wechselt der Kaiser-Wilhelm-Schnäuzer gegen den Ayatollah-Rauschebart, und unter Bergen von Orientteppichen lassen sich prima die Scherben einer missglückten Verständigung kehren. Erpulat und Kulaoÿlu haben viel dokumentarisches Material zusammengetragen, das in einer Absurdität funkelt, die nur die Realität hinbekommt: vom bizarren Massengesundheitscheck der ausländischen Arbeitskräfte bis zum Gesprächsleitfaden für deutsche Einbürgerungsbehörden.

Erpulat entwirft kein Schwarz-Weiß- Bild. Er zeigt Verhältnisse, die sich zur Farce überzeichnen. In diesem Reigen der grotesken Identitätssuche hat auch eine Necla Kelek ihren Platz, deren Originalzitate zu einer irrlichternen Tirade antiislamischer Klischees montiert sind. Einmal berichtet sie – man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll – von einer Heldentat der Emanzipation: dem ersten Biss in die deutsche Bratwurst aus Schweinefleisch. Patrick Wildermann

noch bis 22. Mai

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