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London im Februar.

©  AFP/Daniel Sorabij

Brexit: Der Frühling wird kalt für Großbritanniens Kulturszene

Wie reagieren britische Literaten, Bildhauer und Filmemacher auf den drohenden Brexit? Skizzen aus einem erschöpften Land.

Dies sind die kahlen Fakten: Großbritannien wird – aller Voraussicht nach – am 29. März um 23 Uhr britischer Zeit aus der EU austreten. Beim Referendum über die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs am 23. Juni 2016 stimmten 17 410 742 Menschen dafür, die EU zu verlassen, 16 141 241 stimmten für den Verbleib. Seitdem ist kaum mehr etwas, wie es einmal war. Politiker auf beiden Seiten streiten weiter, die Demonstrationen gehen weiter, das bange Warten geht weiter, aber wie reagieren die Künstler?

Die Schriftsteller kamen am schnellsten zur Sache. Hier ein Zitat aus dem 2016 erschienenen Roman „Herbst“ von Ali Smith: „Im ganzen Land glaubten die Menschen, es sei das Falsche. Im ganzen Land glaubten die Menschen, es sei das Richtige. Im ganzen Land fühlten sich die Menschen wirklich verloren. Im ganzen Land glaubten die Leute, sie hätten wirklich gewonnen. Im ganzen Land dachten die Leute, sie selbst hätten das Richtige getan und andere Leute hätten das Falsche getan. Im ganzen Land haben die Menschen bei Google nachgeschaut: Was ist die EU?“

Smiths Roman liest sich wie eine Elegie auf Großbritanniens Liaison mit Europa. Ihr „Herbst“ ist eine ausgesprochen kalte Jahreszeit. Noch kälter ist Sam Byers „Perfidious Albion“ von 2018, ein dystopischer Roman, der, mit kontrollierter Wut geschrieben, in einer ostenglischen Wohnsiedlung spielt, einige Jahre nach dem Brexit. Rechtsextreme Unternehmer haben die Kontrolle über Informationstechnologien erlangt. Byers’ Vision ist dunkel und zutiefst abstoßend. „Middle England“ von Jonathan Coe, ebenfalls 2018 publiziert, schlägt einen leichteren Ton an. Es ist der dritte Teil seiner Familiensaga in den Midlands. Es gibt da unterschiedliche Reaktionen auf das Referendum. Die Spannungen drohen langjährige Freundschaften zu zerbrechen, Fremdenfeindlichkeit erhebt ihr hässliches Haupt.

Schottland ist skeptisch, Nordirland ängstlich

Im Jahr 2017 publizierte der „Guardian“ eine Reihe von „Brexit Shorts“ , mit sehr unterschiedlichen Perspektiven. Skeptisch die Sichtweise aus Schottland in A. L. Kennedys „Permanent Sunshine“; ein ängstlicher nordirischer Zugang in „Your Ma’s a Hard Brexit“ von Stacey Gregg; ein reumütiger Euroskeptiker der Oberklasse in David Hares „Time To Leave“. Die einzige Pro-Brexit-Meinung war da in „Go Home“ von Charlene James zu hören.

Die erste künstlerische Reaktion auf das Ergebnis des Referendums war wahrscheinlich die Musik auf dem Album „Scobberlothchers“ von Momus alias Nick Currie, in Edinburgh geboren und jetzt in Kreuzberg ansässig. Er textet, wie Großbritannien „weggesegelt“ sei, und wettert gegen „wilde Schafe, Schlampen und Trottel, Bozos, Betrunkene und Teufel, wilde Bully-Herden, höhnische Schurken“, ein Hinweis auf die Gewalt rechtsextremer Aktivisten. Die Schotten stimmten mit 62 Prozent für remain.

Eine verzögerte Reaktion und Resonanz zeigte sich bei Damon Albarn. Sein Album „Merrie Land“ (2018) ist eine triste Reflexion über die Herausforderungen der englischen Identität, ein Orwell’scher Seufzer. Weniger pessimistisch gibt sich der Komponist Matthew Herbert, der mit seiner „Brexit Big Band“ eine europaweite Zusammenarbeit feiert. Er sagt mit Bedauern: „In einem zunehmend zersplitterten und gespaltenen politischen Klima, in dem Toleranz und Kreativität bedroht sind, wollen wir mit unseren Freunden und Nachbarn solidarisch sein.“

In einem offenen Brief , der im Oktober 2018 an Premierministerin Theresa May geschickt wurde, warnen prominente Musiker vor nachteiligen Auswirkungen des Brexit auf die Musikindustrie. Die Aktion wurde von Bob Geldof organisiert, unterzeichnet haben unter anderen Brian Eno, Simon Rattle, Jarvis Cocker und auch Damon Albarn.

Und die bildenden Künstler? Bob und Roberta Smith (das amüsante Doppel- Pseudonym von Patrick Brill) äußerte sich explizit: „Der Brexit ist das Ende der britischen Kunst, wie wir sie kennen“. Und er vergleicht den Brexit mit anderen historischen Schismen: „Wir haben das schon mal erlebt, als Heinrich VIII. sich von Rom abspaltete“. Man sieht: Brexiteers wie Jacob Rees-Mogg haben kein Monopol auf Übertreibungen.

Es gibt natürlich aus Skurriles. Bildhauer Grayson Perry hat Vasen gefertigt, die er „Matching Pair“ nennt – mit dem Fußballspieler Gary Lineker und der ermordeten Abgeordneten Jo Cox in der Remain-Version, mit Nigel Farage und Churchill auf der Leave-Seite. Perry versucht zu besänftigen: „Wir haben viel mehr gemeinsam, als uns trennt.“

"Da können wir ja das Volk gleich befragen, ob es Steuern zahlen soll"

Ungewöhnlich kritisiert der britische Bildhauer Tony Cragg den ganzen Brexit-Prozess. „Ich liebe mein Land, aber ein überspitzter Nationalismus zeugt von der Unfähigkeit, sich eine größere Perspektive zu erarbeiten.“ Der Turner-Preisträger erklärte in einem dpa-Gespräch, es sei ein fataler Fehler des damaligen Premierministers David Cameron gewesen, das Brexit-Referendum überhaupt anzusetzen: „Das ist das Gleiche wie eine Volksbefragung darüber, ob wir Steuern zahlen sollen.“ Lange sei er für ein zweites Referendum gewesen. Und jetzt scheint er aufzugeben: „Ich dachte, das kann man revidieren. Aber was soll das jetzt bringen? Eine endlose Bitterkeit!“

Im vergangenen Jahr gab es eine beeindruckende Ausstellung in der Firstsite-Galerie in Colchester, wo Scott King mit brillantem Sarkasmus einen neuen Typus britischer Ferienlager vorstellte: Dort ist „die Vergangenheit“ nun ein Ort, an dem jedermanns Nostalgiebedürfnisse angesprochen werden.

Im britischen Kino fürchtet man die finanziellen Auswirkungen des Brexit auf internationale Filmproduktionen. Aber im Dunkel der Kinosäle erscheinen die Leavers zugleich auch am glücklichsten. Christopher Nolans „Dunkerque“, Jonathan Teplitzkys „Churchill“ und Joe Wrights „Darkest Hour“ sind Filme, in denen die Traumata des Zweiten Weltkriegs erneut untersucht wurden. In diesen Kino-Epen lässt sich die Sehnsucht nach alter Größe und Unabhängigkeit ausmachen, bis hin zur Brexit-Propaganda.

Und doch: Das alte England, wie es in James Joyces „Ulysses“ schon heißt, könnte im Sterben liegen. Die Menschen sind erschöpft. Oder wie es eine Figur von Ali Smith in „Herbst“ ausdrückt und damit Millionen Briten aus der Seele spricht: „Ich bin dieses Giftes müde. Ich bin der Wut müde. Ich bin der Gemeinheiten müde … “

John Quin, geboren in Glasgow, lebt in Brighton und Berlin. Er schreibt für „Art Review“ und „Frieze“.

Von John Quin

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