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Weiterhin geschlossen. Das Theater Royal in London.

© imago

Britische Künstler fürchten Corona-Ruin: „Unsere Kulturszene ist am Zusammenbrechen“

Großbritannien lockert seinen Lockdown. Doch die Situation vieler britischer Künstler bleibt davon unberührt. Sie sind verzweifelt und wütend. Eine Reportage.

Boris Johnsons Lockdown-Lockerungen? Da schnaubt Adrian Vinken nur verächtlich. Wie Millionen andere hat der Intendant des Theatre Royal im südenglischen Plymouth genau zugehört, als Großbritanniens konservativer Premierminister stolz verkündete: Von Anfang Juli an dürfen auf der schwer Corona-gebeutelten Insel Pubs, Restaurants und Kinos wieder öffnen, in Kirchen, Moscheen und Synagogen darf wieder gebetet werden. Für Theater allerdings gilt: keine Live-Vorstellungen. „Und das bedeutet: Für uns ändert sich überhaupt nichts“, sagt Vinken.

Sein Geschäftsmodell spiegelt die große Mehrheit von Theatern und Konzerthallen wider: Weil staatliche oder städtische Subventionen große Ausnahmen bleiben, müssen sich die Häuser weitgehend selbst finanzieren.

91 Prozent seines Jahresbudgets bezieht das Theatre Royal aus Ticketverkäufen, Sponsoring und Nebeneinnahmen wie dem Restaurant und dem Theatershop. Lediglich neun Prozent steuert das halbstaatliche Arts Council bei. „Die 91 Prozent habe ich in den vergangenen Monaten eingebüßt.“ Auf dem Spiel stehen 100 Jobs.

Johnsons neue Maßnahmen haben daran nichts geändert, ebenso wenig wie an der Situation von Hunderttausenden freiberuflichen Theatermachern, Musikern und Künstlern, denen Covid-19 die Existenzgrundlage entzogen hat.

Seit Wochen werden die Hilferufe aus der Kulturwelt immer verzweifelter: Ohne Übergangskredite oder ähnliche Finanzhilfen, ja ohne jede Perspektive durch die Regierung stehen selbst weltweit renommierte Institutionen wie die Royal Shakespeare Company in Stratford-upon-Avon oder die Londoner Orchester vor dem Ruin.

Theaterbranche steht auf der Kippe

Von mehr als 1000 Theatern auf der Insel befürchten 70 Prozent den Bankrott. „Unsere Kulturszene ist am Zusammenbrechen“, glaubt der junge Dramatiker und Drehbuchautor („The Crown“) James Graham.

Selbst die wissenschaftlich umstrittene Reduzierung der bisher geltenden Abstandsregel von zwei Metern auf „ein Meter plus“ werde wenig bringen, heißt es in einem Brief von 68 Theatern und Opernhäusern in der „Times“: Schätzungen für die zukünftige Belegung von Zuschauerräumen schwanken zwischen 25 und 35 Prozent.

Dabei können die meisten Theater erst ab einer Auslastung von 80 Prozent wirtschaftlich arbeiten. Ihre Branche, Arbeitsplatz für 300 000 Menschen und Touristenmagnet, stehe auf der Kippe, schreiben die Intendanten.

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Verzweifelt bis wütend äußern sich auch britische Musiker. Für das kulturelle Leben des Landes spielen die Knaben- und Mädchenchöre der anglikanischen Kathedralen ebenso wie Zehntausende von Amateurensembles eine überragende Rolle. Deren Aktivitäten stehen still, und vielerorts ist von Schließungen die Rede. Ausgerechnet das Minster von York, Sitz eines anglikanischen Erzbischofs, verkündete bereits: Die Chorschule wird mit Ende des Schuljahres zugemacht.

Ein Papier des Musikverbandes beklagt die durchgehend negative Berichterstattung über Chorgesang, gestützt auf einige wenige Fälle wie den Chor des Royal Concertgebouw in Amsterdam oder den Berliner Domchor. Dabei sei keineswegs geklärt, dass Singen für größere Aerosol-Verbreitung sorgt als beispielsweise lautes Reden, das in einem durchschnittlichen englischen Pub unablässig ist.

Gesang ist nur in kleinen Gruppen erlaubt

Der international renommierte Organist Greg Morris amtiert als Chorleiter und Musikdirektor von St. Margaret’s Church, der Gemeindekirche im Schatten von Westminster Abbey mitten in London. Für das komplette Gesangsverbot gebe es „wissenschaftlich keinerlei Rechtfertigung“, ärgert sich der 43-Jährige.

Natürlich müssten seine Chöre auf soziale Distanz achten und sehr genau die Covid-Risiken abwägen: „Aber Pubs und Friseure wieder zu öffnen, gleichzeitig Gesang nicht einmal in kleinen Gruppen zu ermöglichen, ist lächerlich.“

Zu spät kommt die Lockerung für die meisten Kulturevents des Sommers. Das Treffen von Buch-Aficionados im walisischen Städtchen Hay-on-Wye wurde virtuell ausgerichtet, Premierminister Boris Johnson sprach scherzhaft von „Hay-on-Wifi“.

Die 125. Saison der BBC-Promenadekonzerte besteht von Mitte Juli an überwiegend aus Konserven: Abend für Abend strahlen Radio und Fernsehen die Höhepunkte früherer Jahre aus. Erst während der letzten beiden Wochen von Ende August an sollen Musiker wieder live in Londons Albert Hall aufspielen, wenn auch vor beinahe leerem Haus statt wie sonst vor bis zu 4500 Zuhörern.

Besonders hart trifft es den Nachwuchs

Den Regierungsrichtlinien zufolge dürfen wenigstens Museen und Galerien ihre Wiedereröffnung vorbereiten. Die wichtigsten Londoner Häuser wie das British Museum, die Nationalgalerie oder die Häuser der Tate Gallery schien dies unvorbereitet zu treffen.

Dafür erhalten Kultur-Interessierte online faszinierende Einblicke in die Sammlungen. Das Kulturmuseum Victoria&Albert lockt sogar mit einer virtuellen Ausstellung über „Pandemie-Objekte“. Dazu gehören Zettel mit der Aufschrift „Geschlossen, bitte kommen Sie wieder“ (Closed – please call again). Aber wann?

Besonders hart trifft es den Nachwuchs. Die Londonerin Anna Townley, 21, befand sich auf gutem Weg zu ihrem Traumjob am Theater. Ihre Abschlussarbeit für den Englisch-Bachelor, das Drama „H5“, wurde fürs berühmte Edinburgher Festival ausgewählt, einem unbezahlten Praktikum am National Youth Theatre in ihrer Heimatstadt folgte bald ein bezahlter Job als Inspizientin für eine Inszenierung am renommierten Pubtheater Finborough.

Ihre nächste Kurzzeit-Beschäftigung wäre am bekannten Londoner Pubtheater 503 gewesen, wo jährlich Dutzende von Uraufführungen über die Bühnen gehen und sich weitere wertvolle Kontakte knüpfen lassen. Ob aber die geplante Inszenierung jemals stattfindet? Und wann? „Vom Herbst ist nicht mehr die Rede“, meint Townley, „und selbst an der nächsten Frühjahrssaison gibt es Zweifel.“

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