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Kultur: Brutalst mögliche Aufklärung

Wer etwas verbergen will, macht sich verdächtig. Die Demokratie duldet keine Geheimnisse, heißt es. Doch duldet sie auch keine Privatsphäre mehr?

Können wir eigentlich leben, ohne uns notorisch in Geheimnisse zu verwickeln? Die kleine Notlüge am Telefon, man sei zu müde für ein Bier, nur um dem alten Freund nicht zu sagen, dass sogar ein Sabine-Christiansen-Fernsehabend spannender ist als ein Problemgespräch über dessen letzte Beziehung; unsere kleinen Laster, von denen selbst die engsten Vertrauten nichts wissen dürfen, wie der rituelle Schluck Racke-Rauchzart-Whisky am Abend; unsere verborgenen sexuellen Wünsche, die uns das Internet oder der Videorecorder diskret erfüllen; schließlich unsere verbotenen Liebschaften, das „Fremdgehen“, wie es unschön genannt und gerne praktiziert wird. Hat nicht jeder eine kleine Liebschaft, um die ins Stocken geratene Taktfrequenz des ehelichen Beischlafs zu bereichern – und sei es nur in Gedanken?

Obgleich unser ganzes Leben von Geheimnissen durchsetzt ist, basiert die demokratische Kultur auf einem rigorosen Anspruch auf Wahrhaftigkeit. Seit dem 18. Jahrhundert hält das Konzept der transparenten bürgerlichen Öffentlichkeit ein ungebrochenes Glücksversprechen bereit: Demokratie, Freiheit, Gleichheit und Menschlichkeit stehen bis heute in einem radikalen Gegensatz zu jeder Form von staatlicher Geheimhaltungspolitik. Prekär wird die Lage dabei für jene Zeitgenossen, die auf größtmögliche öffentliche Resonanz angewiesen sind und ihr Privates nur äußerst notdürftig schützen können.

In den Vereinigten Staaten wurde vor einigen Jahren eine kleine Schreibtisch-Affäre zu einem Politikum, die ganze Nation erfreute sich fieberhaft am Corpus delicti ihres Präsidenten. Geschickter als Bill Clinton verhielt sich Helmut Kohl. Als er im Dezember 1999 überraschend die Verantwortung für die verdeckten Parteikonten der CDU übernahm, berief er sich auf anonyme Spender. Spender, deren Namen er bis heute geheim hält, da sie unter dem Schutz seines Ehrenwortes stehen. Kohls Geheimhaltungspraxis wurde als politischer Anachronismus gebrandmarkt, die Informationspolitik des Altkanzlers erinnerte schließlich an die Kabinettspolitik absolutistischer Monarchen: Das Volk musste nicht alles wissen. Entscheidend war, was hinten dabei rauskam.

Der Kohlsche Anachronismus und die Vehemenz, mit der die Öffentlichkeit darauf reagierte, zeugen von einem grundlegenden Wandel unseres Verhältnisses zum Arkanum, zum Geheimnis. Das Arkanum öffentlicher Personen hat heute einen unangenehmen Beigeschmack, es ist das Einfallstor für Verschwörungstheorien aller Art. Unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ohne elektronische Aufzeichnungen und nur im Weißen Haus, das waren die Auflagen für die Sitzung der 9/11-Kommission in Washington, vor der sich US-Präsident George W. Bush im April diesen Jahres mit seinem Vize Dick Cheney zu möglichen Pannen im Vorfeld der New Yorker Terroranschläge äußern musste.

Die alten Staatsarkana feiern seit dem islamistischen Terror eine ungeahnte Renaissance. Gab es nach dem Fall der Mauer für kurze Zeit die Hoffnung, dass die Geheimdienste ihren Betrieb bald einstellen könnten, so belehren uns George W. Bush und Tony Blair seit dem 11. September eines Besseren. James Bond erwachte aus dem Winterschlaf: Der Irakkrieg, die militärische Suche nach Massenvernichtungswaffen wurde mit – wie sich schließlich herausstellte zweifelhaften – geheimdienstlichen Ermittlungen legitimiert. Und es lag nun in der Natur der Sache, dass die geheim gehaltenen Informationen der Öffentlichkeit nur notdürftig und scheibchenweise präsentiert werden konnten. Clinton, Kohl und Bush: Sie alle haben gemeinsam, dass sie durch die öffentliche Zurschaustellung ihres Körpers ein Geheimnis zu wahren versuchten – mit mehr oder minder geschickt. Der Erfolg oder Misserfolg der jeweiligen Strategie vermindert dabei nicht ihr heikles Verhältnis zum Arkanum der Macht. Denn alles, was im Verborgenen bleibt, scheint die öffentliche Fantasie erst recht anzuheizen und die Machthaber zu diskreditieren.

Doch wenn man den historischen Türspalt wieder kurz öffnet, zeigt sich, dass dieses uns selbstverständliche Misstrauen gegenüber den Geheimnissen der Macht eine recht junge Einstellung ist. Noch bis zur ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stieg das öffentliche Ansehen einer Person mit ihrem legitimen Anspruch auf Geheimhaltung. Der Fürst behielt seine göttliche Aura, solange er sich gegenüber seinen Feinden, aber auch gegenüber seinen Untertanen, durch allegorische Gemälde glanzvoll chiffrierte. So begründete politisches Kalkül das Gottesgnadentum. Schließlich verfuhr Gott selbst strategisch, nach und nach lüftete er seine Geheimnisse: das Rad, die Druckerpresse, das Schießpulver und Amerika.

In der Neuzeit avancierte das Geheimnis zu einem der wichtigsten politischen Symbole im Absolutismus, zu einem „Leitfossil“ der politischen Kultur. Es ist die Zeit der geheimen Räte, der geheimen Korrespondenzen und Gesellschaften, der verdeckten Boten, verborgenen Bücher und der Magie. Das Geheimnis ist noch kein negativ konnotierter Begriff, sondern symbolisiert die Aura des Besonderen und erhöht die persönliche Macht des Herrschers.

Die vehementesten Vertreter des Öffentlichkeits-Kults finden wir in der europäischen „Sattelzeit“ des 18. Jahrhunderts. Angetreten, um die Libertinage des Hofes, die Verstellung im Liebesspiel, die politisch-linkische List des Hofmannes, die sakrale Aura des Fürsten und den Eros der verhüllten Kurtisane zu bannen, propagierten die Aufklärer in ihren moralischen Wochenschriften das Phantasma des gläsernen Menschen. Johann Christoph Gottsched und seine Gesinnungsgenossen nutzten das Forum des „Biedermanns“, seinerzeit eine populäre Wochenschrift, um gegen weibliche Schminke, höfische Turmfrisuren und jegliche erotische Reizbarkeit zu wettern. O-Ton Gottsched: „Will das Weib lebenslang die Maske nicht ablegen? Das geht nicht an. So wird es denn seinem Ehegatten nicht mehr gefallen. So wird es denn von ihm nur eine kurze Zeit geliebet werden. So wird sie ihn unglücklich machen.“

Aus den Körperzeichen und Verhaltenscodes suchte das bürgerliche Jahrhundert das subjektive, authentische Selbst herauszufiltern, das im Wunschbild der reinen, unschuldigen Weiblichkeit seinen prägendsten Ausdruck fand und, wenn man so will, die Integrität des Phallus gewährleistete. Entfaltete sich der Hof, nachdem der kämpfende Ritter im Absolutismus zum funktionslosen Höfling degradiert wurde, zum theatralen Schauplatz einer allseitigen Erotik, so waren die Schlagworte der Aufklärung ruhende Scham, private Häuslichkeit und ungezwungene Intimität. Die Aufklärung suchte den Körper als transparenten und lesbaren Ausdruck des Inneren zu entdecken und seine Vieldeutigkeit, sein Geheimnis zu verbannen. Bereits hier deutet sich der von Michel Foucault bezeichnete „Wille zum Wissen“ an.

Enthüllt und gleichzeitig überhaupt erst zum geheimnisvollen Ort der voyeuristischen Entlarvung gemacht, wurde der Körper um 1800 zum Ort obsessiver Fantasien, denen man 100 Jahre später mit der Erfindung der Psychoanalyse zusätzlich auf die Sprünge verhalf: Auf der Couch wurden die allerletzten, unbewussten Triebfedern unseres körperlichen Begehrens gelüftet. Doch auch die Aufklärer brachten wieder eigene Geheimnisse hervor. Die klugen Herren, die tagsüber gegen die Schminksucht der Damen ins Feld zogen, feierten abends in Freimaurerlogen einen mysteriösen Bruderkult und inszenierten das Geheimnis ihrer Freundschaft. Seither sind Geheimnis und Aufklärung verschwistert, bisweilen bilden sie eine verlogene Allianz. Man muss dabei nicht von der Scheinheiligkeit der Aufklärungsgesellschaft sprechen, wie es der Historiker Reinhart Koselleck in den frühen 50er Jahren tat, als er der Epoche des Lichts attestierte, sich unrechtmäßig zum moralischen Richter über Gut und Böse aufgeschwungen zu haben.

Doch obwohl wir seit dem 18. Jahrhundert danach streben, jedes zwischenmenschliche Detail ans Licht zu zerren, bedürfen wir doch des institutionell garantierten Geheimnisses. Denn kaum etwas fürchtet die moderne Gesellschaft mehr, als die vollständige Entdeckung des Privatlebens. Je mehr wir die Öffentlichkeit der Informationsgesellschaft ausdehnen, bis hin zu einer weltumspannenden Internetgemeinschaft, umso stärker versuchen wir uns gegen sie zu wappnen. Eingespannt zwischen unzähligen PIN-Codes, Kennwörtern, Firewalls, Briefgeheimnissen, Anwalts- und Arztgeheimnissen suchen wir die Geister zu bändigen, die wir einmal geweckt haben. Je vehementer wir die Geheimnisse vertrieben, umso nachdrücklicher haben sie uns eingeholt.

Es war Georg Simmel, der in seinem großen Essay über das Arkanum den dialektischen Charakter des Geheimnisses beschrieb: Er machte die Beobachtung, dass das, was früher offenbar war, heute in den Schutz des Geheimnisses tritt, und dass im Gegenzug früher Geheimes in späteren Zeiten öffentlich wurde. Die demokratische Gesellschaft hat unser Verhältnis zum Geheimnis auf den Kopf gestellt. Wer zu viele Geheimnisse hat, verliert sein gesellschaftliches Ansehen; wer keine hat, gilt als integer. Wer sein Lichtbild mit Lebenslauf und Hobbys ins Netz stellt, kann auf Resonanz hoffen; wer dem „Spiegel“ keine Interviews gibt, führt womöglich schwarze Konten. Ehrenworte helfen da nicht.

Und doch: Sind wir nicht Auratisierungs-Weltmeister in einer durchrationalisiert-modernen Welt, von der Max Weber behauptete, sie sei so gänzlich entzaubert? Im Schatten des aufklärerisch-demokratischen Lichts, welches die alten Herrschafts- und Religionsarkana rigoros verbannte, begann die Moderne ihre fetischistischen Ersatzkulte bereitzustellen: die zirkulierende Warenwelt, der wir verfallen; die Mode, der wir hinterher hecheln; das Lebensgefühl des Großstadtcafés, in dem man, wie gesagt wird, noch immer voyeurhaft die Seele baumeln lassen soll – auf der Suche nach dem flüchtigen Lächeln in der Menge. Zu denken ist auch an den heiligen Torschützen, der in kollektiver Verblendung frenetisch bejubelt wird – bis zur nächsten Niederlage.

Es ist kein Zufall, dass mit dem Ende der alten Arkana am Ausgang des 18. Jahrhunderts, das Geheimnis eine Auferstehung in der autonomen Kunst feierte. Der klassische Kriminalroman ist hier das Paradebeispiel für eine Gattung, die erst entstehen konnte, als die sakralen Geheimnisse zu Grabe getragen worden waren. Zwischen dunklem, schauderhaften Verbrechen und vorprogrammierter, weltlicher Entlarvung wiederholte er den Aufklärungsprozess und befriedigte sowohl das Bedürfnis nach Geheimnis als auch die Sehnsucht nach seiner rationalen Bewältigung.

Doch als Edgar Allan Poe den ersten modernen Kriminalroman „Die Morde in der Rue Morgue“ mit Auguste Dupont als Detektiv schrieb, konnte er nicht ahnen, dass er einen der langlebigsten Stereotypen der Kulturindustrie fabriziert hatte, der heute noch durch alle Fernsehkanäle rauscht. Es scheint also, als habe die Aufklärung das Geheimnis bedroht und neu erschaffen, verbannt und wiederbelebt. Doch wie der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme bemerkt, liegt in dieser Janusköpfigkeit des Geheimnisses eine Gefahr für jede demokratische Gesellschaftsordnung. Denn: „Demokratie bedarf der Kulte, diese aber bedürfen nicht der Demokratie.“

Offenkundig brauchen wir in allem, was wir tun, einen Rest an Ungewissheit, um morgens überhaupt aufstehen zu können. Ohne Geheimnisse könnten wir nicht überleben, es wäre George Orwells berüchtigtes „1984“, eine mediale Transparenz als Folterinstrument, der kalte Blick auf unsere Nacktheit. Der Soziologe Georg Simmel spricht sogar von einem „Menschenrecht auf Geheimnis“. Im Angesicht des Terrors und der technischen Raffinessen modernster Chip-Industrie gerät dieses Recht jedoch in Gefahr. Man muss kein verblendeter Technikkritiker sein, um die aktuelle Bedrohung des Geheimnisses, die immer auch die Bedrohung der individuellen Freiheit ist, in Augenschein zu nehmen.

Im Dezember 2001 hat der Bundestag im Zuge der neuen Terrorgefahr beschlossen, dass biometrische Merkmale in die Personalausweise aufgenommen werden. Diese Merkmale dürfen verschlüsselt werden, das heißt, der Ausweisinhaber kann selbst nicht feststellen, welche Angaben auf dem Ausweis stehen; ob Fingerabdruck, Iris oder Handfläche. Welches Körperteil wir Innenminister Schily opfern, wird verborgen bleiben – auch zu unserem eigenen Schutz. Ganz zu schweigen von den Datenschutz-Dauerbrennern wie große Lauschangriffe, die Ausweitung der Geheimdienstrechte oder Handy-Erfassungssysteme. Eine neue Qualität erhält die Personenkontrolle durch einen Vorstoß ausgerechnet dem Großhandel, der sich ansonsten der mythischen Zirkulation der Warenwelt verschrieben hat. In einzelnen Modellkaufhäusern testet der Metro-Konzern bereits die so genannte Radio-Frequency-Identification-Technik (RFID). Hinter RFID verbergen sich Mikro-Chips, die Nachfolger der bekannten Strich-Codes, die den Produkten eingepflanzt werden und Daten per Funk aussenden.

Im Prinzip kann damit nicht nur das Kaufverhalten eines bestimmten Kunden gespeichert werden, sondern die Spur eines frisch gekauften Nachthemdes bis ins heimische Bett verfolgt werden. Noch stärker als der genetische Fingerabdruck scheint dieser Datenchip dem individuellen Geheimnis auf den Leib zu rücken.

Doch was ist das für eine Welt, die keine Geheimnisse mehr duldet? Was geschähe, etwa wenn Liebende sich ihrer Absichten vom ersten Blick an sicher wären? Kein Blumenstrauß wanderte über die Ladentheke, keine Anspannung läge in der Luft beim ersten flüchtigen Tête-à-tête, kein Schluck Wein flösse nervös durch die Kehlen der sich Begehrenden. Wir würden mit dem Geheimnis, wie Simmel bemerkte, eine der „größten Errungenschaften der Menschheit“ verlieren, eine „ungeheure Erweiterung des Lebens“.

Eine Welt ohne Geheimnisse wäre der blanke Terror.

Adam Soboczynski

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