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Ist der Titel nur ein Vermarktungselement? Hat nur der Autor Anspruch, ihn zu benennen? "Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher" über diesen schwierigen Spagat.

© Piper Verlag

Buchkritik: „Bibliothek der ungeschriebenen Bücher“: Babyklappe der Literatur

Buchtitel sollen verkaufsfördernd sein – und werden meist von Verlagen bestimmt. In der „Bibliothek der ungeschriebenen Bücher“ erzählen Autoren von ihren verworfenen Ideen. Der guten und der schlechten.

Eines ist klar: kein Buch ohne Titel auf dem Umschlag. Aber einen wirklich guten, originellen Titel zu finden ist schwer. So mancher Autor entwickelt daher in seiner Verzweiflung ungewöhnliche Suchmethoden. Der Wiener Romancier Thomas Stangl zum Beispiel klopft Zeitungsmeldungen auf ihre Titeltauglichkeit ab – um schaudernd zu konstatiern, dass man sich zu Überschriften wie „Yoga in Wiesbaden“ oder „Ameisen in der Currywurst“ lieber gar kein Buch vorstellen möchte.

Sein Berliner Kollege Tilman Rammstedt dagegen sucht gern im Kleingedruckten seiner Haftpflicht-Versicherung nach Titelkandidaten. Aktuell hat er sich in „Hüten fremder Hunde“ verliebt. Leider, muss man sagen, denn Verlage wollen keine Cover mit dem Wort „Hunde“ darauf. Das musste schon Erich Kästner erfahren, der seinen Roman „Fabian“ lieber „Der Gang vor die Hunde“ genannt hätte. So stehen hinter jedem gedruckten unzählige ungedruckte, verworfene Titel, gibt es fast in jeder Autorenlaufbahn „heikle, dramatische, bizarre oder vergnügliche Titel-Verlustgeschichten (…)“, wie es im Vorwort von „Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher“ heißt.

Juli Zehs Roman "Nullzeit" hieß einst "Alles ist Wille

Insgesamt 71 Gegenwartsautoren, von Volker Harry Altwasser bis Juli Zeh, erzählen darin nun ihre ganz persönlichen „Titel-Verlustgeschichten“. Die Anthologie bietet gleichermaßen einen faszinierenden Blick hinter die Kulissen des Literaturbetriebs wie einen in die Werkstätten der Autoren. Die Herausgeber, Annette Pehnt, Friedemann Holder und Michael Staiger, sehen in ihrem Band eine „Text-Mission, um vergessene und verworfene Texte aus der Babyklappe der Literaturgeschichte zu bergen“. Jeden dieser „geretteten“ Titel haben Grafik- und Design-Studenten aus Karlsruhe und Bielefeld dazu noch mit einem ganz eigenen Umschlagentwurf ausgestattet.

Auch diese Anthologie sollte ursprünglich anders heißen, nämlich „Archiv verworfener Titel“. Aber weil es auf dem Buchmarkt schon ein „Archiv verworfener Möglichkeiten“ gibt, kamen die Herausgeber von dieser Idee wieder ab. Sie können daher keinem Verleger die Schuld dafür geben, dass auch ihr Werk am Ende einen schlechteren, weil unpräziseren Namen erhalten hat: Denn tatsächlich „ungeschrieben“ ist ja nur ein Teil der Werke, von denen die befragten Autoren berichten. Die meisten gibt es: nur eben unter einem anderen Titel. So wie Juli Zehs Roman „Nullzeit“, der ursprünglich „Alles ist Wille“ heißen sollte.

"Titel sind eine Verlockung. Sie öffnen Türen, aber nur einen Spaltbreit"

„Titel sind eine Verlockung. In ihnen kündigt sich ein Textganzes an, das sich noch nicht zeigt, aber hinter dem Vorhang auf seinen Auftritt wartet: ein noch verborgenes Buch, eine noch zu entdeckende Phantasie. Titel öffnen Türen für noch nicht betretene Räume, aber nur einen Spaltbreit; sie sind das wortgewordene ‚noch nicht, aber gleich'.“

Die Lektüre der Beiträge zeigt, dass es viele Gründe dafür gibt, warum Lektoren oder Verleger Titelvorschläge von Autoren ablehnen. Nicht zu sperrig sollte er sein, nicht zu ambitiös oder zu avantgardistisch, und auch keine abschreckenden Assoziationen auslösen. „Das Wort ‚Gehirn' wirkt nicht verkaufsfördernd“, zitiert Paul Ingendaay einen Verlagsvertreter – Gottfried Benn hätte heute mit seinem Prosatext „Gehirne“ wohl keine Chance mehr; überhaupt scheint der „Respekt vor der kaufsteuernden Wirkung von Titeln (…) auf Verlagsseite gigantisch zu sein“, resümieren die Herausgeber in ihrer Einleitung.

Selten ist ein Autor wie Lutz Seiler im Nachhinein dankbar dafür, dass ihm seine Titelidee ausgeredet wurde. Häufiger gärt in den Autoren die Wut darüber, nicht standhaft geblieben zu sein, wie etwa im Fall von Martin Gülich: „Gewiss, es gibt nicht wenige, die meinen, der Verleger habe mich vor Schlimmerem, wenn nicht gar vor Schlimmstem bewahrt. Aber sollte ich deshalb aufhören, mit mir zu hadern? Zu hadern, dass ich seinerzeit nicht beharrlicher, entschlossener, sturer, kompromissloser war? Dass ich nicht vor Zorn aufgesprungen bin, Stühle umgeworfen und ein paar Gläser vom Tisch gewischt, dass ich meinen Verleger nicht am Kragen gepackt und dreimal kräftig durchgeschüttelt habe? ‚Die Paarung der Feuerwanzen! Hast du's verstanden, hast du's endlich verstanden?“ Gülichs Roman hieß am Ende lapidar „Die Umarmung“.

„Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher" – sie ist auch ein vielstimmiges Plädoyer dafür, dem Leser mehr zuzutrauen als nur die marktgängigste Lösung.

Annette Pehnt, Friedemann Holder, Michael Staiger (Hrsg.): Die Bibliothek der ungeschriebenen Bücher. Piper Verlag, München 2015. 225 Seiten, 24 €.

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