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Buchkritik: Vom ungedeckten Wechsel auf die Zukunft

Geld ist unvernünftig: Joseph Vogls brillanter Essay über „Das Gespenst des Kapitals“

Zunächst die gute Nachricht: Man darf unsere Verhältnisse noch immer mit guten Gründen bei einem Namen nennen, der nach dem Abdanken des Ostblocks schon als vermeintlich ideologischer Kampfbegriff ausgemistet wurde: Kapitalismus. Nun die schlechte: Dieser Kapitalismus ist noch immer eine unerfreuliche Angelegenheit, die dadurch, dass sie auf einer Fiktion beruhen könnte, nichts von ihrem realen Beunruhigungspotenzial verliert.

Die Begeisterung, die Joseph Vogls Buch über das „Gespenst des Kapitals“ derzeit auslöst, ist durchaus begreifbar. Dieser argumentativ dichte und sprachlich funkelnde Essay versucht, die aktuellen wirtschaftlichen Krisen zu deuten und zugleich mit der quasi-religiösen Verheißung aufzuräumen, der kapitalistische Markt werde das Ganze schon irgendwie zum Guten wenden. Besonders anregend wird dieser Versuch dadurch, dass Vogl, Literaturwissenschaftler an der Humboldt-Universität, den Kapitalismus als einen Text liest. Eine Hermeneutik des Finanzkapitals, so der Ausgangsverdacht, könnte mehr zu unserer Selbstaufklärung beitragen als die Wissenschaft der politischen Ökonomie.

Am Beginn steht eine Behauptung, die ökonomische, aber auch literarische und philosophische Köpfe seit langem umtreibt: das Marktgeschehen sei rational, vernünftig und effizient. Letztlich sorgten Angebot und Nachfrage für Gleichgewicht und Ordnung. Gegen diese Legitimationserzählung von der besten aller ökonomischen Welten, die „Oikodizee“, steht eine Sichtweise, die dem Markt völlige Irrationalität unterstellt, Irrtum und Verblendung am Werk sieht. Am Ende wird man mit Vogl zur Erkenntnis einer Dialektik des Rationalen gelangen, in der Finanzmärkte „mit rationalen Entscheidungsprozessen systematisch Unvernunft produzieren“.

Ein erstes Datum, das Adam Smiths Idee einer „unsichtbaren Hand“, die angeblich einen Ausgleich aller widerstrebenden Interessen besorgt, in die Parade fährt, ist das Jahr 1797. Da geht das Papiergeldsystem, das die Französische Revolution installiert hatte, wegen Zahlungsunfähigkeit des Staates in die Brüche. Gleichzeitig wird die Bank von England von der Verpflichtung befreit, ihre Banknoten in Münzgeld, also gesicherte Wertsubstanzen wie Silber oder Gold, zu wechseln, und damit eine Deckung zu garantieren. Insolvenz und Referenzlosigkeit begründen das neue Finanzsystem.

Das Substrat der Banknote aber besteht darin, etwas zu repräsentieren, das nicht vorhanden ist. Sie ist ein Versprechen, das erst in einer Zukunft eingelöst werden soll. Diese „Verzeitlichung“ etabliert eine Ökonomie des Aufschubs und macht Geld zu einer Form des Kredits. Das neue Kreditgeld aber, mit dem das alte System von Tausch und Gegentausch abgelöst wird, koppelt den Finanzmarkt von der Sphäre der materiellen Produktion, der Güter und des tatsächlich vorhandenen Gelds ab und führt in die „autopoietische Schließung des Systems“. Mit dem Ende des Abkommens von Bretton Woods, das die globale Finanzordnung nach dem Zweiten Weltkrieg stabilisieren sollte, indem es feste Umtauschrelationen internationaler Währungen mit dem Dollar und dessen Bindung an den Goldstandard festlegte, wurde der Finanzmarkt 1973 auch von seiner letzten Verankerung befreit. Der neue Standard ist ungedecktes Rechengeld.

Was es bedeutet, mit Werten zu rechnen, die nur in der Zukunft und nur eventuell existieren, haben die Krisen und Pleiten der vergangenen Jahrzehnte gezeigt. Die „innere Zukunftssucht“ des Kapitalverkehrs führt aber dazu, dass die Erwartungen an die Zukunft selbst an ihr mitwirken: „Der Finanzmarkt“, so schreibt Vogl, „funktioniert als ein System von Antizipationen, die das ökonomische Verhalten auf das Erraten dessen verpflichten, was der Markt selbst von der Zukunft denken mag. Damit nehmen gegenwärtige Erwartungen nicht einfach das künftige Geschehen vorweg, vielmehr wird das künftige Geschehen von den Erwartungen an das künftige Geschehen mitgeformt und gewinnt als solches aktuelle Virulanz.“

Während man sich in dieser zirkulären Struktur schwindlig denkt, ist es um die Rationalität des Finanzmarkts schlecht bestellt. Die freilich hatten bereits der Mathematiker Benoit Mandelbrot mit Berechnungen zur Dynamik von Preisbewegungen und der Physiker Ilya Prigogine mit der Adaption chaostheoretischer Überlegungen auf die Ökonomie in Zweifel gezogen.

So recht problematisch wird die Sache, weil fiktive Märkte Auswirkungen auf reale Menschen haben. Die Risiken jedenfalls, mit denen Finanzmärkte jonglieren, werden „für die Mehrzahl derjenigen, die in aller Abhängigkeit nichts zu entscheiden haben, in elementare Gefahren verwandelt“. Vogl nun zeigt weder Wege aus der Gefahr noch eifert er für Verteilungsgerechtigkeit oder gibt den Moralisten. Dieser Verzicht auf Selbstüberhebung ist zweifellos sympathisch. Auf einem anderen Blatt steht, was die nicht-literaturwissenschaftlich gestützte Politische Ökonomie davon hält. Eine Rationalität der Märkte wird von ihr keineswegs durchgängig behauptet. Vielmehr kennt sie das Phänomen des „Marktversagens“, das Interventionen seitens der Politik geradezu erforderlich macht. Nicht zuletzt, um die Vernunft des Ganzen – auch im Sinne eines sozialen Bandes – immer wieder aufs Neue herzustellen. Kaum ein seriöser Ökonom wird behaupten, dass diese Mechanismen perfekt funktionieren.

Dennoch liefert Vogls Historisierung und Demontage der „Oikodizee“ so ernüchternde wie wertvolle Erkenntnisse: Die viel beschworene Selbstregulierung der Märkte gibt es nicht. Und das angeblich liberale Credo des „solo mercatus“ hat weniger mit Freiheit als mit einem Glauben zu tun. Insofern kommt Vogls „Säkularisierung ökonomischen Wissens“ keinen Tag zu früh.

Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals. Diaphanes Verlag, Berlin 2011. 224 Seiten, 14,90 €.

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