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Buchkritk: Magie und Masche

Schauerromantik und labyrinthische Metapherngärten: Clemens J. Setz’ Erzählband „Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes“

Es beginnt mit den Visitenkarten: Die ganz oben wellt sich ein wenig, fühlt sich an, als wüchse auf ihr eine Art von Geschwür. Weiter geht es mit den CDs, dann sind auch noch die Kredit- und Geldkarten befallen. Die Abwicklung des täglichen Lebens, Beruf, Geldverkehr, Privatsphäre, ist unmöglich geworden; was bleibt, ist eine triste Existenz in der Zurückgezogenheit. Das ist die Welt des österreichischen Schriftstellers Clemens J. Setz. Für seinen umfangreichen Roman „Die Frequenzen“ wurde der 1982 in Graz geborene Setz als Hoffnung gefeiert und für den Deutschen Buchpreis nominiert; mit seinen neuen Erzählungen steht er auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse. 18 Texte, von denen einer, „Die Waage“, im Jahr 2008 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet wurde.

Erstaunlich glatt lassen sich diese Texte weglesen, verdächtig glatt sogar, gerade angesichts der Tatsache, dass sie durchzogen sind von manchmal unterschwelliger, zumeist aber brachialer Gewalt, von Ekel, Demütigungen und Quälereien. Es dauert nicht lange, bis man den Tricks, die Setz verwendet, auf die Spur kommt, zumal er sie nicht eben subtil einsetzt. Einer davon ist die aufdringliche Vitalisierung der Dingwelt, die mit der Körperwelt verschmilzt, sei es in Form der erwähnten Visitenkarten, sei es in Form einer großen Waage, die eines Tages im Hof eines Mietshauses steht und dessen Bewohner durch ihr Vorhandensein aus dem psychischen Gleichgewicht bringt.

Setz bedient sich aus allem und bei jedem, schöpft aus der Tradition der Schauerromantik, inszeniert lustvoll eine Ästhetik des Hässlichen und Schrecklichen, vermischt Traum- und Realitätsebenen, streut surreale Elemente ein. Wo genau man sich befindet, soll man gar nicht wissen, und damit das auch jeder versteht, muss dann auch einmal ein Mann vor einem M. C.-Escher-Poster stehen und es, nein, nicht betrachten, sondern studieren: „Treppauf und treppab“. Und irgendwann tritt man nur noch auf der Stelle.

Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Clemens J. Setz ist ein junger und mit Sicherheit talentierter Schriftsteller. Es gibt starke Erzählungen, wie beispielsweise die Auftaktgeschichte, in der ein Junge einen Mitschüler quält und zu Hause dafür wiederum von seinem Bruder körperlich gezüchtigt wird. Aber auch in dieser Geschichte packt Clemens J. Setz wieder den Schockwellen-Dampfhammer aus: „Die schreckliche Kreuzigung auf der ersten Schauseite des Isenheimer Altars; ein Porträt des Elefantenmenschen Joseph Merrick; das nackt brennende Mädchen in Vietnam; der Lampenschirm aus Buchenwald; ein KZ-Häftling, der in einer Druckkammer ermordet worden ist, mit geborstenen Augenhöhlen; ein alter Kupferstich, der einen Pestdoktor zeigt, geschnäbelt und mit einem Stock zum Berühren der Kranken, vor ihm ein abgezehrter schwarzer Leichnam wie ein Büschel verbrannte Wolle.“ Und so weiter. Über eine Seite geht die Aufzählung, um damit zu enden, dass all das wieder in einer Kiste verschwindet und unters Bett geschoben wird. Genauso funktioniert auch der gesamte Erzählungsband: Wie aus einer Wundertüte zieht Setz Motive, Metaphern und Einfälle hervor; manche blitzen verführerisch, manche mag man sofort beiseitelegen, aber um all das zu ordnen, fehlt es dem Autor offenbar nicht nur an der Lust, sondern auch hin und wieder an den nötigen sprachlichen Mitteln.

Durch und durch krank sind die Setz-Figuren in ihren Normalo-Welten, in ihrem Lehrer- oder Angestelltendasein. Wenn die dunklen Seiten nicht ausgelebt werden können, werden sie sublimiert. Dass sich dahinter existenzielle Regungen verbergen könnten, darf man nur vermuten. Man kann alles Mögliche über Setz’ auf Psychologie gänzlich verzichtende Erzählungen behaupten, nur nicht, dass sie irgendeine Form von Bedrohlichkeit ausstrahlten. Stattdessen wirken sie, mit wenigen Ausnahmen, in ihrer auf Geschmacklosigkeit getrimmten Postmodernität bloß apart und gefällig.

Das komplexe, geradezu labyrinthische Denksystem, das dem Ansatz des studierten Mathematikers Setz zugrunde liegt, klingt in jener Erzählung an, in der er die fiktive Biografie Marc David Regans, des Erfinders eines ebenso fiktiven Computerspiels erzählt, das noch kein Mensch zu Ende gespielt hat und in seiner verschachtelten Anlage (das letzte, verdeckte Level hat noch niemand gefunden) eine wissenschaftliche Forschungsgemeinde auf den Plan ruft. Eine der Studien zu Regan trägt den Titel „Magician or Trick?“ Clemens J. Setz ist viel zu klug, um nicht zu wissen, dass die Frage auch an sein eigenes Werk zu richten ist.

Clemens J. Setz: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes. Erzählungen. Suhrkamp Verlag, Berlin 2011, 352 S., 19,90 €.

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