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© imago images/Hoffmann

Zur Frankfurter Buchmesse: Muss man Bücher zu Ende lesen?

Es ist eine Gretchenfrage unter Bücherfreunden: Was tun, wenn das Buch nicht gefällt? Zuklappen, wegpacken, Neues nehmen? Ein Pro & Contra.

AUSLESEN IST PFLICHT - BÜCHER DÜRFEN UNS AUCH HERAUSFORDERN, sagt Anna Thewalt:

Der erste Satz eines Buches ist die große strebsame Schwester aller nachfolgenden Sätze. Ihm gilt der erste Blick und die große Aufmerksamkeit am Beginn jeder Lektüre.

Belletristik-Schreibübungen widmen sich ihm in langen Ausführungen, die Stiftung Lesen schrieb gar einmal einen Wettbewerb für ihn aus. Aber mal ehrlich: Wer ein Werk in Gänze begreifen will, der muss seine Aufmerksamkeit weit länger halten – bis zum kleinen Bruder, dem letzten Satz. Bücher gehören durchschmökert und kritisch diskutiert, sie gehören in die Ecke gepfeffert und innig geliebt, vor allem aber gehören sie: ausgelesen.

Auslesen ist wie ausreden lassen, es ist nicht immer einfach, man möchte dazwischengehen, man möchte Einwände liefern, man möchte das Gespräch beenden, wenn etwas Unangenehmes gesagt wird. Aber wer bis zum Ende aufmerksam zuhört, der ist meist schlauer – und kann sich vor allem ein eigenes Urteil bilden. Wer eine Buch-Lektüre vor dem letzten Satz beendet, der bringt sich selbst um dieses eigene Urteil. Nur wer ausliest, kann mitreden. Wer vor dem letzten Satz urteilt, schneidet der geschriebenen Kunst das Wort ab.

Schnell angelesen, rasch verurteilt?

Wie gerne wird etwas oberflächlich angelesen und schnell verurteilt, für nicht würdig erklärt, kostbare Lesestunden zu füllen. Zeit ist dieser Tage ein knapp bemessenes Gut, wer mag sich da durch anstrengende Seiten quälen! Aber Lesen ist keine rein hedonistische Beschäftigung. Es geht darum, sich in fremde Welten einzufühlen, sich neuen Themen zu öffnen und für eine Weile ein anderes Leben zu führen als das, was hinter dem Buchdeckel auf einen wartet. Wie im wahren Leben gibt es auch in den meisten Büchern Durststrecken. Seiten, die sich ziehen, Kapitel, die uns überflüssig erscheinen, Sätze, die ärgern.

Doch Bücher dürfen uns auch herausfordern. Wer die Herausforderungen aushält, wird vielleicht nicht immer mit einem Leserausch belohnt – wohl aber mit neuen Blickwinkeln und dem guten Gefühl, nicht vor den kleinsten Herausforderungen oder einer lästigen Szene Reißaus genommen zu haben. Das eigene Urteilsvermögen wird so geschärft. So begegnet man nicht nur dem Kunstwerk und der Autorin, dem Autor mit dem nötigen Respekt, sondern auch sich selbst.

Auslesen heißt: sich selbst etwas zutrauen

Nur wer einem komplizierten oder anstrengenden Buch eine Chance gibt, kann es wirklich kennenlernen. Auslesen heißt auch, sich selbst etwas zuzutrauen. Und wenn das Buch gar nicht gefallen hat, dann kann man das wenigstens glaubhaft begründen. Meistens stellt sich doch der angenehme Sog des Lesens erst ein, wenn wir länger dran bleiben. Dafür muss man sich selbst Zeit geben und manchmal eben auch dem Autor. Niemand, der etwa Goethes „Faust“ oder „Bodentiefe Fenster“ von Anke Stelling angefangen und bis zum letzten Satz gelesen hat, würde vermutlich behaupten, dass es ein jedes einzelne Wort durchziehender Genuss war. Aber die allumfassende Aussage eines Textes steht erst dann vor einem, wenn man ihn komplett gelesen hat. Erst dann sind alle Gedanken- und Erzählstränge zusammengeführt worden. Ein Buch ist ein Gesamtkunstwerk mit Höhen und Tiefen. Deswegen lese ich immer bis zum Schluss. Ende. Aus.

Und das jetzt alles zu Ende lesen? Auch, wenn es anstrengend ist?
Und das jetzt alles zu Ende lesen? Auch, wenn es anstrengend ist?

© dpa

ES GIBT ZU VIELE GUTE BÜCHER, UM SCHLECHTE ZU ENDE ZU LESEN, sagt Ariane Bemmer

Bücher können auch schrecklich sein. Sie können langweilen oder konfus machen oder Nerven töten. Nicht jedes Buch wird geschrieben, weil jemand etwas zu sagen hätte. Manchmal erlahmt die Geschichte mittendrin oder wendet sich ins Unplausible, als wäre sie dem Autor, der Autorin selbst egal geworden. Manchmal nimmt die Anzahl des handelnden Personals in der ersten Hälfte des Buchs derartig zu, dass man sich in der zweiten nur noch mithilfe von Post-Its zurechtfindet. Manchmal müssen Autoren Verträge erfüllen, dann springt ihre bockige Lustlosigkeit aus jeder Zeile.

Das alles sind Zumutungen für die Leserschaft, die so freundlich, neugierig und zugewandt war, sich dem Buch zu nähern. Und die sich wehren kann, darf – gar sollte. Es gibt so viele gute Bücher, warum Zeit mit schlechten verschwenden? Wobei gut und schlecht natürlich höchst subjektiv sind – aber was auch sonst, wenn es sich um Hobbyleser*innen handelt?

Ein Buch soll etwas in Gang setzen

Ein Buch kriecht über die Augen ins Gehirn und setzt dort etwas in Gang oder eben auch nicht. Wird etwas in Gang gesetzt, ein Horizont erweitert, eine Gewissheit erschüttert, nenne ich es subjektiv gut. Drömmelt man nur so von Zeile zu Zeile, finde ich es subjektiv schlecht. Etwas anderes wäre das Literaturseminar, in dem Bücher regelrecht besprochen werden sollen – da ist die Kenntnis des ganzen Textes natürlich Pflicht.

Wer seinen Bücherbedarf in öffentlichen Bibliotheken deckt, denkt über die Zu-Ende-Lesen-Frage vielleicht grundsätzlich anders als jene, die jedes Buch schon gekauft haben, bevor sie mit der Lektüre anfangen. Aus Bibliotheken werden meist mehrere Titel mitgenommen, die zu lesen einem nur die Leihfrist plus eine Verlängerung bleibt. Da wird dann nach den ersten Seiten entschieden: Lohnt sich das Weiterlesen hier, oder soll ich lieber erstmal ein anderes Buch probieren? Ist das Buch bereits ins Eigentum übergegangen, zwingt man sich eher zum Durchhalten, schließlich ist das Buch einem quasi 20 Euro schuldig.

Dostojewski flog gegen die Wand

Das sind alles aber zugegebenermaßen mehr marktgängige Überlegungen als kunstsinnige. Also: Schuldet die Leserschaft der Autorenschaft ein gewisses Durchhalten? Ein gewisses vielleicht – aus Höflichkeit und Respekt. Und man weiß ja von Reiterfreunden, dass man die Rittigkeit eines Pferdes nicht nach zwei Runden im Schritt beurteilen kann. Ebenso weiß man nach zwei, drei Seiten kaum etwas über ein Buch (auch wenn sich da schon abzeichnen kann, ob einem der Schreibstil auf den Wecker geht). Wenn dann aber Kapitel um Kapitel das Gefühl zunimmt, hier nicht mehr auf seine Kosten zu kommen, dann ist ein Nein angezeigt.

Besonders deutliche Abwehrreaktionen haben bei mir „Es“ von Stephen King und „Schuld und Sühne“ von Fjodor Dostojewski ausgelöst. Ersteres wegen psychopathischer Grausamkeiten, Letzteres wegen allem. Beide Bücher – Eigentum, nicht Leihgaben – habe ich tatsächlich wutentbrannt an die Wand geschmissen. Und mir ist bis heute gut erinnerlich, wie froh ich war, sie los zu sein und nicht weiterlesen zu müssen. Nein, zu Ende lesen müssen wäre der Terror der Alternativlosigkeit. Müsste ich jedes Buch zu Ende lesen, ich würde womöglich keins mehr anfangen.

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