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Buchmessenschwerpunkt Neuseeland: Mittendrin ein Elefant

Auch ein Berlinroman: „Die Frau im blauen Mantel“ von dem neuseeländischen Autor Lloyd Jones.

Die Angst vor dem Unaufklärbaren hat nicht allein das Dasein des Einzelnen ärmer gemacht“, stellte Rainer Maria Rilke fest. Mit solchen wuchtigen, monolithischen Sätzen im Repertoire zieht der Freiluft-Rezitator Bernard alias Drittes Millennium allabendlich durch Berlin, auf der Suche nach freigiebigen Zuhörern. In der U-Bahn fällt ihm eine Afrikanerin in einem eleganten blauen Mantel auf. Sie begleitet einen älteren Mann, der offenbar schlecht sieht. Als die Frau im Menschengewühl am Alexanderplatz eine Tüte fallen lässt, kommen die drei ins Gespräch.

Durch ein Aufenthaltsstipendium der Organisation Creative New Zealand verbrachte der Schriftsteller Lloyd Jones 2007 ein Jahr in Berlin. 1955 im neuseeländischen Lower Hutt geboren, zählt Jones zu den namhaftesten Autoren seines Landes. Sein in mehr als dreißig Sprachen übersetzter Roman „Mister Pip“ ist demnächst als Kinofilm zu sehen. Somit bilden Lloyd Jones, der nächsten Monat nach Berlin zurückkehrt, und sein neues Buch eine Vorhut des Länderschwerpunkts Neuseeland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Es gebe „nichts Besseres als einen neuen Ort, um sich von den Schuppen vor den Augen zu befreien“, schreibt Jones am Ende seines Romans. Dieser selbst stellt einen literarischen Dank an Berlin dar, den wichtigsten Schauplatz und Kulminationspunkt der Handlung. Topografisch exakt und atmosphärisch fein hat der Beobachter aus Down Under seine Eindrücke verarbeitet; mit einer Vorliebe für den Zoo, wie sie wohl auch Rilke hegte, als er das berühmte Pariser Panther-Gedicht schrieb. Bei Lloyd Jones heißt es: „Ich hatte vergessen, was für ein Schock das war: mitten in der Stadt von der Straße kommend vor einem Elefanten zu stehen.“ Eine Art Schock des Unaufklärbaren trifft jene Menschen, die der Frau im blauen Mantel begegnen. Die rätselhafte Leerstelle, um die alle Monologe der „Zeugen“ kreisen, welche den Text konstituieren, ist nichts und niemand anderes als die Titelfigur selbst: „Ihre Anwesenheit war anders. Keine, die ständig deine Aufmerksamkeit verlangt. Sie sprach nicht, war vollkommen in sich gekehrt. Ihre ganze Sorge bestand darin, keinen Platz einzunehmen.“

Das Blau von Ines’ Mantel steht traditionell für Treue und Ferne – fern und fremd bleibt sie allen, denen sie auf ihrer Odyssee von Tunesien über das Mittelmeer nach Italien und schließlich nach Berlin begegnet. Treu hingegen ist Ines auf der Reise „to the North“ einzig und allein ihrem Vorhaben: ihr geraubtes Kind wiederzubekommen. Denn als Hotelangestellte in Tunesien hatte sie sich auf ein Verhältnis mit einem Gast eingelassen, Jermayne aus Deutschland, ein Schwarzer wie sie, aber selbstbewusster und „nicht in dieser Haut aufgewachsen“.

Was wie ein beginnendes Familienglück aussieht, entpuppt sich nach der Geburt des Sohnes als arglistige Täuschung: Nichtsahnend unterschreibt Ines die Einwilligung in die Adoption. Jermayne verschwindet mit dem Säugling nach Berlin, um ihn dort mit seiner Ehefrau aufzuziehen. Die unfreiwillige Leihmutter bleibt in Nordafrika zurück, mit Blick auf das trennende Mittelmeer.

Leitmotivisch und ein wenig redundant taucht das zentrale Blau des Mantels auf. So trauen einige norditalienische Rebhuhnjäger kaum ihren Augen, als sie die Afrikanerin auf ihrer Pirsch im Wald erblicken. Am Lagerfeuer bewirten sie die Fremde und lassen sie dann weiterziehen – wie die anderen Europäer, vom sexuell bedürftigen Lastwagenfahrer bis zur scheinbar engagierten Dokumentarfilmerin. Indem er Ines eine Art Schubert’sche „Winterreise“ voller Entbehrungen und Demütigungen absolvieren lässt, formuliert Lloyd Jones eine poetisch zarte, doch eindrückliche Kritik am Kapitalismus.

Seine Romanfigur sei ihm einfach aus der Zeitung entgegengetreten, als er einen Artikel über afrikanische Bootsflüchtlinge las, sagt Lloyd Jones. Damit greift er ein virulentes Thema auf: die genauso unsichtbaren wie unmenschlichen Barrieren, mit denen sich die Erste Welt vor der sogenannten Dritten schützt. Der kosmopolitische Roman heißt im Original zutreffend „Hand me down world“. Er beschreibt eine Welt, die Menschen einfach wie Second-Hand-Kleidung ablegt und weiterreicht. Nur zu Neuseeland fällt kein Wort. Das steigert die Vorfreude auf Oktober.

Lloyd Jones: Die Frau im blauen Mantel. Roman. Aus dem Englischen von Grete Osterwald. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. 320 S., 19,95 €.

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