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Im Olymp angekommen. Der diesjährige Büchner-Preisträger Marcel Beyer 2014 auf der Frankfurter Buchmesse.

© Arno Burgi/dpa

Büchner-Preis an Marcel Beyer: Ich stand unter der Erde, der Himmel blieb

Deutsche Geschichte nach Schuld und Sühne: Der Dichter und Erzähler Marcel Beyer erhält den Georg-Büchner-Preis.

Von Gregor Dotzauer

Dresden, Radeberger Straße 101. Ein sechsstöckiger Plattenbau in der Neustadt, Google Street View zeigt ihn in seiner ganzen gesichtslosen Geheimnislosigkeit. Wer sich aber mit Marcel Beyer dorthin begibt, dem verrutschen alsbald die Koordinaten. Man betritt ein Stück Russland, das zu DDR-Zeiten auf dem Stadtplan gar nicht existierte. Im dritten Stock wohnte Mitte der 80er Jahre der junge KGB-Hauptmann Wladimir Putin.

Kaum aber geht der Leser mit Beyer auf die Suche nach „Putins Briefkasten“ (2012), wie die Titelgeschichte seiner acht Expeditionen in gleichermaßen reale wie imaginierte Räume zwischen Estland und Weißrussland heißt, folgt er ihm schon in den Dresdner Zoo, wo Fjodor M. Dostojewski 1867 den Tagebucheintragungen seiner Frau zufolge einen einäugigen Löwen so lange fixierte, bis dieser zu brüllen begann. Und zwei Absätze weiter, nach Elias Canettis Überlegungen zum Führen von Tagebüchern, stolpert man mit höchster assoziativer Selbstverständlichkeit in Beyers Erkenntnis hinein: „In der Fremde erweist sich die eigene Sprache als der unzähmbare Löwe selbst.“

Welche Fremde? Die terra incognita, die ihn zu diesem Denkbild inspirierte, fand er vor der Haustür. 1965 im württembergischen Tailfingen geboren, studierte er Germanistik und Anglistik in Siegen, lebte dann einige Jahre in Köln, bevor er 1996 nach Dresden zog. Die Stadt wurde sein Tor zum Osten, den er sich reisend nach und nach eroberte. Er betrieb „Erdkunde“ (2002), wie der Eröffnungszyklus des gleichnamigen Gedichtbands hieß: „Mir träumte von Knochen, / ich war im Gelände, / mein Gesicht, meine Füße, / ich schaute auf meine Hände. // in den Staub, den Niesel, / ich wusste nicht, bin ich /in Teplitz, in Teplice oder in Tepl, / ich berührte nichts, alles // fürchtete ich, würde zerbröckeln, / so wie der Name, porös, / porös in der Hand, der Senke, / es roch, als sei etwas verbrannt, / eine Schürfstelle sicher, / ich stand unter der Erde, / doch der Himmel blieb / da. Nirgendwo Knochen.“

Es war die natürliche Fortsetzung seiner Auseinandersetzung mit deutscher Geschichte, die in Beyers bis heute berühmtestem Roman „Flughunde“ (1995) einen ersten Höhepunkt fand. Er erzählt darin die Geschichte des Schallforschers Hermann Karnau, der sich immer enger in die Dienste der Nazis begibt, bis er als Wachmann im Führerbunker die letzten Stunde von Goebbels und Hitler begleitet. Als Tontechniker ist er anfangs nur für die Akustik bei Propagandaveranstaltungen zuständig. Später nimmt er an der Front das Geröchel sterbender Soldaten auf und assistiert bei Kehlkopfoperationen, die auf Himmlers Betreiben das Wesen der „arischen“ Stimme erforschen.

Abhörterror eines Stimmenvampirs

Auch „Flughunde“ ist imaginiert und real zugleich: erfunden in der Figur des Stimmenvampirs Karnau, ansonsten aber, nicht zuletzt unter Zuhilfenahme der Goebbels-Tagebücher, historisch weitgehend verbürgt und mediengeschichtlich sorgfältig recherchiert. Beyer legt Schichten eines Abhörterrors frei, in dem sich die ganze Tyrannei spiegelt – und das vor allem auf der Ebene der Handlanger und Opfer.

Wenn Marcel Beyer am 5. November den mit 50 000 Euro dotierten Georg- Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhält, wird ein Schriftsteller ausgezeichnet, der sich als Nachgeborener anfangs zunächst selbst wunderte, warum er sich so tief mit der Vergangenheit einließ. Doch von Buch zu Buch fand er genauer heraus, wie sie ihn und sein Schreiben jenseits unmittelbar moralischer Schuld und Sühne bedingte. Mit ihm würdigt die Jury einen Autor, „der das epische Panorama ebenso beherrscht wie die poetische Mikroskopie. Er widmet sich der Vergegenwärtigung deutscher Vergangenheit mit derselben präzisen Hingabe, mit der er die Welten der Tiere und Pflanzen erforscht. Er hat den Sound der Straße im Ohr, er kennt die Testgelände der ästhetischen Avantgarden, er ist vertraut mit der tückischen Magie der Medien. Seine Texte sind kühn und zart, erkenntnisreich und unbestechlich. So ist während dreier Jahrzehnte ein unverwechselbares Werk entstanden, das die Welt zugleich wundersam bekannt und irisierend neu erscheinen lässt.“

Experiment am Tier - oder am Menschen?

Das gelang ihm, wie in dem 2008 erschienenen Roman „Kaltenburg“, nicht immer überzeugend. Darin versucht er sich an einer Art Ost-Pendant zu den „Flughunden“. Der Ich-Erzähler begibt sich, von den Dresdner Bombennächten des Jahres 1945 traumatisiert, in denen er massenweise Vögel vom Himmel stürzen sieht, in die Obhut des an den Tierforscher Konrad Lorenz angelehnten Zoologen Ludwig Kaltenburg und wird Ornithologe. An Kaltenburgs Seite erlebt er die Wechselfälle des kommunistischen Nachkriegszeitalters – und sieht, wie das Experiment am Tier eigentlich das menschliche Verhalten im Visier hat.

Selbst für das zusammengezwungene Stückwerk von „Kaltenburg“ aber gilt jene Suche nach einer „Haltung des Hörens“, die er in seiner Dankesrede zum Uwe-Johnson-Preis 1997 herausstellte. „Schweigen ist unmöglich.“ Und: „Die guten Leute sollen das Maul halten.“ Diese beiden Johnson-Sätze, die sich in den „Jahrestagen“ noch zur Bemerkung „Die Toten sollen das Maul halten“ steigern, bilden für ihn die Spannung seines Schreibens: „Als Nachkomme von Schweigegeneration und Antwortgeneration, dazu als jemand, der weder einen Stern noch einen farbigen Winkel sich an die Kleidung hätte heften müssen, der nicht zur Ermordung vorgesehen wäre, weiter als jemand, der mit Worten umgeht, aus Neigung zudem vor der Öffentlichkeit, und der aus seiner Neigung notwendigerweise eine Befragung, eine unabschließbare Prüfung seines Materials, der Sprache ableitet.“

Lauter Zitate postmoderner Helden

Angefangen hat Beyer nach ersten Gedichten indes mit wahren Intertextualitätsexzessen. Sein Debütroman „Das Menschenfleisch“ (1991) verwurstete Zitate postmoderner Heroen von Antonin Artaud und Roland Barthes und montierte sie ein in eine hochfragmentierte Körper- und Liebesgeschichte: Sie verschlingt ihren Erzähler am Ende in einer fleischfressenden Pflanze. Es war die Zeit, in der er unter dem Einfluss von Alain Robbe-Grillets nouveau roman jeder historischen Erzählsubstanz misstraute. Es war die Zeit, in der er, ein Bewunderer der Cut-up-Techniken von William S. Burroughs und Brion Gysin, für das Kölner Musikmagazin „SPEX“ zu schreiben begann. Und es war die Zeit, in der er noch ganz unter dem Einfluss von Friederike Mayröcker stand, die seine Leseinteressen zwischen Michel Leiris und Francis Ponge prägte.

Manche Verrenkung und Verrätselung mag ihm davon geblieben sein – mit ihr aber auch die Widerständigkeit gegen ein unbefragt realistisch-mimetisches Literaturverständnis, das der Dichter Beyer ohnehin scheut. Sein jüngster Lyrikband „Graphit“ (2014), ein „Grundbuch für zeitgemäße Dichtung“, wie Michael Braun in dieser Zeitung schrieb, durchquert – mit einer großen Verneigung vor seinem verstorbenen Freund Thomas Kling – einmal die Welt vom Rheinland bis zum Schwarzen Meer. Dabei macht er mit dem großen Gedicht „Sanskrit“ Halt bei Karl May in Radebeul bei Dresden. Ihm widmete er ein Libretto zum Musiktheater von Manos Tsangaris, nachdem er bereits dreimal mit dem Komponisten Enno Poppe arbeitete. Höher geht es in der deutschen Literatur seiner Generation nach dieser Wahl kaum noch hinaus. Es wird deshalb spannend, in welchen Regionen sich die Akademie in den kommenden Jahren umsehen will.

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