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Büchner-Preis: Zeit der Gladiolen

Darmstädter Allerheiligen: Dass die Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Josef Winkler auf den Festtag, der toten Seelen fällt, könnte treffender nicht sein. Der "Knochensammler" Winkler sieht im Schreiben existenzielle Notwendigkeit.

Es muss sich um eine höhere Fügung handeln, wenn der katholische Renegat Josef Winkler ausgerechnet an Allerheiligen im Staatstheater Darmstadt den Georg-Büchner-Preis erhält. Denn wie oft schon hat der selbsternannte „Knochensammler“ Winkler den Festtag der toten Seelen beschrieben. So auch in seinem neuesten Buch „Ich reiß mir eine Wimper aus und stech dich damit tot“ (Edition Suhrkamp). Der Titel zitiert ein Schwulenlied aus den 1920er Jahren.

In „Knochenstillleben auf dem Asphalt mit Ovomaltine“ bricht der Autor samt Familie zur Allerheiligen-Feier nach Mexiko auf, dem ekstatischen „Día de los muertos“. Da wird in Klagenfurt ein Junge bei Grün überfahren. Virtuos verknüpft Josef Winkler, selbst Vater zweier Kinder, diese heimische Tragödie mit dem mexikanischen Totenfest. Mit „Zeit der Butterblumen, Zeit der Gladiolen“, einer rauschhaften Verkettung Kärntner Unglücksfälle, verneigt sich der hochverdiente Büchner-Preisträger schließlich vor Alfred Döblins Erzählung „Die Ermordung einer Butterblume“.

Gladiolen hatten die Winkler-Geschwister dem toten Großvater in der erwähnten Erzählung ins Grab gelegt. In Darmstadt nun scheint der 1953 geborene Bauernsohn neben einem übermannshohen weißgelben Gladiolengesteck vor violettem Hintergrund endlich auf der lebenssichernden Seite der Schrift angekommen zu sein: weit weg von jenem „übermächtigen, mit seinen violetten Flügeln schlagenden Engel“, der bohrte ihm „den Kirchturm tiefer und tiefer in die Brust, schließlich durchs Herz, bis die Kirchturmspitze mit dem blutverschmierten Kreuz neben meiner Wirbelsäule durch den Rücken stach“. Dieser Racheengel, hatte ihm seine Mutter eingeschärft, notiere jede seiner Taten und Sünden. Eines Tages machte der kleine Josef neben dem Beichtstuhl eine unerhörte Entdeckung: Die angeblich buchführenden Engel waren hohl.

Schreiben ist für Josef Winkler kein Selbstzweck, sondern existenzielle Notwendigkeit. Atemlos, obwohl er doch nun, da er auch den Großen Österreichischen Staatspreis erhalten hat, endlich aufatmen könnte, schildert Winkler in seiner Dankesrede „Die Realität so sagen, als ob sie trotzdem nicht wär“ (ein Zitat von Edvard Grieg), wie er einst zur rettenden Literatur von Karl May, Georg Büchner („Über den Selbstmord“) bis Jean Genet fand. Tu felix Austria: Seit 1997 ist Winkler der vierte Österreicher, der den wichtigsten, mit 40 000 Euro dotierten deutschen Literaturpreis erhält. Die 2001 prämiierte Friederike Mayröcker sagt über ihn: „Er ist mein Bruder in Poesia.“

Der Wiener Literaturkritiker Ulrich Weinzierl beginnt seine Preisrede landestypisch mit einem „Partezettel“ auf den kürzlich verstorbenen Wendelin Schmidt-Dengler. Er war ursprünglich als Laudator vorgesehen und hatte Winkler den Rat gegeben, nach Indien zu fahren. Die Folge waren sieben Reisen und unter anderem das Todesepos „Domra. Am Ufer des Ganges“ (1996).

Unter dem Eindruck der pharisäerhaften Reaktionen auf Jörg Haiders Lebenswandel und Unfalltod verteidigt Weinzierl Winklers Literatur gegen den Vorwurf einiger Kritiker, sie sei veraltet. Schon in seinem Debüt „Menschenkind“ von 1979 sei das Skandalöse „in einer barock metaphernverbuhlten, blut-, sperma- und todgekränkten Sprache kunstvoll und fortissimo zugleich hinausgeschrieen“ worden: „Der Winkler-Sound war nun mal keine Masche oder Manier, eher Sprache gewordener Furor.“ Dieser gönnt sich jedoch zunehmend heitere Auszeiten, etwa in einer hinreißend morbiden holländischen Strandszene, die Josef Winkler vortrug: Während er am ersten Satz seiner Büchner-Preisrede feilte, umzingelten den begnadeten Beobachter scheinbar zufällig Totenkopf- und Mariensymbole auf Badeanzügen und tätowierten Nacken.

Angesichts dieser Übermacht der Symbole hatten es die beiden anderen, mit jeweils 12 500 Euro bedachten Preisträger der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung mit ihren eher nüchternen Disziplinen nicht leicht. Lothar Müller, Träger des Johann-Heinrich-Merck-Preises für literarische Kritik und Essay, empfahl Mercks Auffassung der Literaturkritik als „Gärung aus Enthusiasmus, Desillusion und Misstrauen“, die unserer Epoche abhandengekommen sei: „Die Literatur verliert durch die Verabschiedung der paradoxen Kulturkritik und des Reizklimas der Selbstnegation einen alten Herausforderer, der zugleich ihr Verbündeter war.“

Der Medizinhistoriker Michael Hagner, ausgezeichnet mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa, wurde vor allem durch seine Studien zur Hirnforschung bekannt (Laudator: Horst Bredekamp). Der wiedergewählte Akademie-Präsident Klaus Reichert betonte, dass Hagners „Schriften bezeugen, dass das Deutsche auch als Sprache der Naturwissenschaften seinen alten Rang und Glanz meisterhaft behaupten kann“.

Dies hatten während der vorausgegangenen Herbsttagung der Akademie auch Autorinnen und Autoren wie die Türkin Emine Sevgi Özdamar oder der Bulgare Dimitré Dinev bewiesen. Sie sind mit ihrer Literatur ins Deutsche eingewandert und haben es bereichert – „nachhaltig“, wie es oft so schön und falsch heißt.

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