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Berliner Ensemble: Lügen haben Holzbeine

Premiere (1): Ein unbekanntes und so gut wie nie aufgeführtes Stück: Friedrich Schillers verpuppter "Parasit" am Berliner Ensemble.

Man nennt diese Konstruktion wohl Halbpuppe. Oben Mensch, unten Puppe mit Holzbeinen, die zu den Grimassen des echten Gesichtes herumbaumeln. Die Wirkung dieses Zwitters ist zwiespältig, eine Mischung aus Feuerzangenbowlen-Augenzwinkern und Kasperletheater-Überzeichnung. Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll.

Wir befinden uns im Berliner Ensemble, und gegeben wird ein unbekanntes und so gut wie nie aufgeführtes Stück von Friedrich Schiller. „Der Parasit oder die Kunst sein Glück zu machen.“ Schiller verfasste das Lustspiel 1803, nach einer Vorlage des Franzosen Picard. Es geht um ein Intrigennetz, das zu Füßen eines gutmütigen Ministers wuchert. Karrierist nutzt Kollegen aus, wanzt sich an die Tochter des Herrschers heran, stibitzt die Verse eines ihrer Verehrer und landet schließlich zur rechten Seite der Macht. Von wo aus – um das einmal Erschlichene zu bewahren – immer weiter betrogen werden muss: Machtgier, Schleimerei, Hinterfotzigkeit. Das volle Programm. Ein Stück, das eigentlich immer passt. Tagsüber die Amtseinführung der neuen Minister und am Abend im BE die messerscharfe Politikbetriebsentlarvung? Ach.

Doch wie der zahnlose Hase eher hoppelt als läuft, zeigt gleich das erste Bild. Ein kleinwüchsiger Schauspieler erscheint vor dem noch geschlossenen Vorhang, die Augen wie im Kindertheater zu großen Kullern geweitet, die Zunge hängt ihm aus dem Mund. In den Logen über ihm tauchen Doppelgänger auf, fünf, sechs, der gleiche karierte Anzug, die gleiche an die Stirn geklebte Strebersträhne, und intonieren flüsternd im Chor: „Die Kunst, sein Glück zu machen.“ Immer wieder. Wir haben verstanden: Politik ist eine Farce, und Parasiten gibt es viele.

Dann hebt sich der Vorhang, und mit dem ersten Blick auf das Bühnenbild von Etienne Pluss, in dem schon die ersten Schauspieler-Puppen stecken, verschenkt die Inszenierung von Philip Tiedemann alles, was sie hat: Eine diktatorische Grundidee, deren putziger, also beschränkter Reiz schon nach wenigen Minuten verfliegt. Man sieht eine mehrstufige Rampe, eine steile Treppe mit vielen Klappen. Durch die federn von unten die Oberkörper der Schauspieler hoch, dann schwingen sie ihre kurzen (Lügen-)Holzbeine über die Kante – und das sieht schon recht lustig aus. Zumal jede Bewegung von dem phänomenalen Jörg Gollasch mit lustigen Ratsch- oder Schepper-Geräuschen begleitet wird. Wenn ein Schauspieler zum Beispiel einem anderen Schauspieler den Zeigefinger an den Kopf stößt, gibt es ein seltsames Quietschen, als sei der Kopf oder der Finger aus Gummi.

Doch stehen diese Mittel nicht im Dienste der Geschichte. Hier ist die Geschichte das notwendige Übel, das nur erzählt wird, um Effekte vorzuführen. Weil es viele Klappen gibt, müssen die Schauspieler ständig mal hier und mal dort hochschnellen und wieder abtauchen. Weil die Holzbeine so lustig baumeln, muss man sie ständig nach rechts oder links schleudern, oder man lässt sie drehen wie die Blätter eines Propellers. Man kann sie aber auch absägen – denn dazu passt ein hässliches Kratz-kratz-Geräusch.

Die Hemmungslosigkeit, mit der Philip Tiedemann sich an den Zuschauer heranmacht, steht der Hemmungslosigkeit, mit der Schillers Selicour um die Gunst des Ministers züngelt, in nichts nach.

Wieder am heutigen Sonnabend sowie am 10. und 15. November

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