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Berliner Theatertreffen: Die stillen Tode der BRD

Wunschkonzert: Die Engländerin Katie Mitchell erfindet am Schauspiel Köln Franz Xaver Kroetz’ Sozialdrama neu.

Für Engländer muss dieses Stück ein Horror sein. Für sie ist Theater Dialog, Witz, Konversation. Doch auf der Bühne gibt es nur ein graumäusiges deutsches Fräulein zu sehen, das nach einem öden Bürotag in seine Wohnung zurückkehrt und stumm das Ritual des Feierabends vollzieht: essen, abwaschen, Radio hören, aufs Klo gehen, ins Bett. Und am Ende schluckt es eine Überdosis Tabletten.

„Wunschkonzert“ von Franz Xaver Kroetz, das kurze Treatment aus den frühen Siebzigern, hätte Katie Mitchell schon lange gern in London inszeniert. Doch die 1964 geborene Theaterfrau, die an der Royal Shakespeare Company und am Royal Court arbeitete und seit 2003 associate director am Royal National ist, erntete überall nur schmerzvolle Blicke. Schließlich hat sie letzten Dezember mit „Wunschkonzert“ am Kölner Schauspiel ihr deutsches Debüt gegeben, bei ihrer alten Bekannten Karin Beier.

Und es passierte für die Britin Erstaunliches: Die Rheinländer, die als die leichtlebigsten, glücklichsten Deutschen gelten, bejubeln seitdem diesen Abend, der nichts weiter ist als: 70 Minuten Depression pur. Die Juroren des Berliner Theatertreffens (der Autor ist einer von ihnen) ließen sich ebenso beeindrucken wie Kroetz, der die Aufführung gleich zweimal hintereinander anschaute.

Damals, als er das stumme Spiel (für die große Giehse) entwarf, war Kroetz DKP-Genosse und begriff es als Studie kapitalistischer Entfremdung: Der sinnentleerten Arbeit folgt der sinnentleerte Feierabend, der einzig der „Reproduktion der Arbeitskraft“ dient. Könnte man die millionenfache Frustration umpolen, die zu den „kleinen, törichten Selbstmorden“ wie dem gezeigten führt, hätte man eine revolutionäre Situation.

Katie Mitchell verhielt sich zum „Wunschkonzert“ auf listige, dialektische Weise: wie zu einer Botschaft aus einer fremden, versunkenen Kultur. Das Deutschland von damals kannte sie auch nicht, so wenig wie das heutige, bevor sie die Kölner Arbeit in Angriff nahm. Wie eine Ethnografin ging sie daran, den westdeutschen Alltag von 1970 zu rekonstruieren, von der Mode, von der Musik, vom Interieur bis zu Fragen wie: Belegte man damals sein Brot mit Tomatenscheiben? (Angeblich nein.) Zur Präsentation ihrer Forschung entschied sie sich für eine multimediale Installation, ein Verfahren, das sie zusammen mit ihrem Videopartner Leo Warner schon dreimal am National praktizierte: bei „Waves“ nach dem Roman von Virginia Woolf, bei „Attempts on her life“ von Martin Crimp und bei „Some trace of her“ nach Dostojewskis „Idiot“.

Mit scheinbar kühler, quasi forensischer Objektivität werden die letzten Stunden von Fräulein Rasch für die LiveVideokamera nachgestellt. Bad, Klo, Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer sind wie ein Filmset aufgebaut. Darin umkreisen zwei Kameraleute die eindrucksvolle Julia Wieninger, der das Leben ohne Liebe ins verschlossene, bäuerliche Gesicht gegraben scheint. Ein halbes Dutzend weiterer dienstbarer Geister (Schauspieler, Musiker) sind auf der Vorbühne simultan damit beschäftigt, mit allerlei Requisiten Close-ups herzustellen.

Wenn Fräulein Rasch hinten ihr Kleid in den Schrank hängt, synchronisiert eine Schauspielerin vorn durch Aneinanderreiben von Stoff das Geräusch. Wenn sie hinten im Bad die Hände wäscht, wird vorn an einem zweiten Becken das Closeup gedreht: Die Arme des Doubles stecken in den abgeschnittenen Ärmeln des Hauskleids. Die einzelnen Teile werden schließlich auf eine Großleinwand eingespielt und ergeben, perfekt geschnitten, den Film dieses Endspiels.

Auch das titelgebende Wunschkonzert entsteht live: Ein Schauspieler moderiert am Mikrofon mit dem sonoren Schmelz von damals die Musikstücke an, die vom Band oder live von einem Streichquartett kommen. Dazu läuft auf einem SchwarzWeiß-Fernseher Robert Lembkes Beruferaten „Wer bin ich?“ Und wenn eine Schauspielerin Gedichte der Amerikanerin Anne Sexton, einer Expertin des „Live or Die“, einstreut, weht für ein paar Atemzüge ein fremder, psychotischer Klang in die deutsche Klaustrophobie.

Am Ende, wenn der letzte lange dünne Schmerzton des Streichquartetts abbricht, leuchtet nur noch die Leinwand. Sie zeigt keinen Menschen mehr, nur das von der Morgensonne erhellte Interieur und in Großaufnahme den Wecker von Fräulein Rasch. Wie üblich auf sechs gestellt, schrillt und rattert er so lange, bis die Feder erlahmt ist. Ein Moment, in dem einem das Herz stockt. Vielleicht gab es seit den frühen Filmen von Chantal Akerman oder seit dem zweiten Teil von Marthalers Performance „The Unanswered Question“ keine so eindringliche Studie weiblicher Isolation.

Woher kommt diese traumsichere, hochmusikalische Kunstfertigkeit, die die Emotion als menschliches Maß keine Sekunde vergisst? Katie Mitchell hat 1989 ein halbes Jahr in Polen und Russland die Kunst der stanislawskischen Versenkung studiert, bei Andrzej Wajda, Lew Dodin und Anatoli Wassiliew (man kann das in ihrem Lehrbuch „The Director’s Craft. A handbook for the theatre“, bei Routledge, nachlesen). Bei so jemandem sind Close-ups heiliger Ernst: Sie sollen dem Betrachter die kleinsten mimischen Erschütterungen nahebringen, die ihm in der Totale verborgen blieben.

Zuschauern und Zuhörern der Inszenierung leuchtet ein, dass Jürgen Flimm das Team Mitchell/Warner im Sommer für Luigi Nonos Revolutions-Collage „Al gran sole carico d’amore“ nach Salzburg geholt hat. Auch Fräulein Raschs stille Implosion hebt sich in den Klang-Ekstasen von Schicksalen revolutionärer Frauen auf. Die Inszenierung wird eines der Einstandsgeschenke, die Flimm an die Berliner Staatsoper mitbringt.

Andres Müry

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