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Brasil Move Berlim: Rio de Janeiro in Berlin

Brasilien tanzt im Hebbel am Ufer: Eine Festival-Expedition in die Favelas von Rio und in die Provinz.

Von Sandra Luzina

Rio de Janeiro blendet. Die Stadt am Zuckerhut betört die Sinne bis zur Schmerzgrenze. Um Rio richtig kennenzulernen, muss man sich jedoch an die Peripherie begeben, in die nicht ungefährlichen Randbezirke der Metropole.

Eine Woche lang haben die Kuratoren des Berliner Tanzfestivals „Brasil Move Berlim“, Wagner Carvalho und Björn Dirk Schlüter, die brasilianische Tanzszene erkundet. Der Besuch des offiziellen Festivals „Panorama“ stand auf dem Programm, doch Carvalho und Schlüter verfolgen auch über andere Kanäle die jüngsten Entwicklungen und halten Kontakt zu den Künstlern, die bereits in früheren Jahrgängen des Berliner Festivals hier gastierten.

Vom Zentrum nach Andaraí im Norden von Rio: eine Busfahrt des Grauens. Betonpoller markieren die Grenze zur Favela, die malerisch inmitten der morros, der grünen Hügel liegt. Ein Anruf vorab: Ja, wir dürfen hinein ins Armenviertel – dass die Favela kurz nach unserem Besuch von der Polizei gestürmt wird, ahnt da noch keiner. Ein junger Mann bringt uns über holprige Straßen in einen schmucklosen Betonbau, in dem das soziokulturelle Projekt von Carmen Luz angesiedelt ist. Die afrobrasilianische Tänzerin hat die Truppe Étnica gegründet, um Kinder und Jugendlichen aus armen Familien einen Zugang zur Kunst zu ermöglichen – und um sie von der Straße zu holen, auf denen die Drogenbanden regieren.

Die Tänzerin setzte den Fuß nach Andaraí, als sich hier noch kein Sozialarbeiter oder Kulturpolitiker blicken ließ. Die Kinder aus der Favela erhalten hier Tanz- und Theaterunterricht und lernen Englisch. Die größeren Mädchen proben mit großer Konzentration eine anspruchsvolle Choreografie; hier wird nicht Samba oder Baile Funk getanzt, sonder dezidiert zeitgenössisch! Am Abend soll eine kleine Vorführung stattfinden, aber die Lage ist gerade wieder sehr angespannt.

Carmen Luz trägt das Licht schon in ihren Namen. Die schöne Frau scheint tatsächlich von innen zu leuchten. In Berlin hielt sie vor zwei Jahren einen Vortrag „Schwarze Poetik für das Elend und die Schönheit der Städte“, und wenn man sie fragt, warum sie sich in der Favela engagiert, lächelt sie zurück. „Schau sie dir an“, sagt sie und blickt voller Stolz auf ihre Schützlinge, „sie leben noch, das ist das größte Geschenk.“ Auch wenn ihren Schülern eher selten der Sprung in eine professionelle Kompanie gelingt: Die Jugendlichen gewinnen hier Selbstvertrauen – und sie lernen wieder zu träumen.

Wie politisches Engagement und eine avancierte Ästhetik bei brasilianischen Künstlern Hand in Hand gehen, ist immer wieder verblüffend. Marcelo Evelin hat in den Niederlanden studiert und dort mit der von ihm begründeten Demolition Inc. Company mehr als 25 Choreografien erarbeitet. 2006 traf er die Entscheidung, in seine brasilianische Heimatstadt Teresina zurückzukehren. Das dortige Teatro João Paulo II hat er inzwischen in einen Ort für die Entwicklung zeitgenössischer darstellender Kunst verwandelt.

Auch wenn der Choreograf mit neuen Ideen und Projektgeldern aus Holland ankam, schlug ihm anfangs großes Misstrauen entgegen. Er musste hart kämpfen – gegen die Ignoranz und die leeren Kassen. Heute spricht er liebevoll von „seinen Leuten“. Die schockt er immer mal wieder, etwa mit der Produktion „Bull Dancing“, die das Festival „Brasil Move Berlim“ im Hebbel am Ufer eröffnet. „Bull Dancing“ bezieht sich auf ein Ritual aus den Anfängen der Kolonialzeit: „Bumba Meu Boi“, ein traditioneller Straßenumzug, war ursprünglich eine satirische Darstellung von Tod und Wiederauferstehung eines Stiers. Marcelo Evelin greift darauf zurück, „weil es viel mit der Identität und der sozialen Situation der Menschen hier zu tun hat“, wie er erklärt. Er zeigt freilich kein Folklore-Spektakel, sondern übersetzt das Ritual in eine radikal zeitgenössische Performance, die um Begehren, Gewalt und Subversion kreist. Der Stier, eine Metapher für das Heilige und das Profane in jedem von uns.

Die hierarchische Vorstellung von Zentrum und Peripherie hat für den brasilianischen Tanz keine Gültigkeit mehr. Auch abseits der Metropolen, in den Provinzstädten existiert mittlerweile eine vitale Szene, wie die vierte Ausgabe von „Brasil move Berlim“ demonstriert. Ein kleines Abenteuer ist die Exkursion nach Macaé, zweieinhalb Busstunden nördlich von Rio. Wegen ihrer Erdölraffinerien ist die Stadt von großer wirtschaftlicher Bedeutung, unter den kleineren Kommunen gilt Macaé jedoch auch als diejenige mit der höchsten Rate an gewaltsamen Todesfällen. Hier hat die international gefeierte Kompanie Membros ihren Sitz, als Teil des örtlichen HipHop-Kulturzentrums.

Ein Sprayer vollendet gerade ein Graffito, das einen Mund zeigt, der sich wie ein Reißverschluss öffnet: Die Kunst schweigt nicht. Mit Unesco-Mitteln wurde kürzlich ein neuer Filmschnittplatz eingerichtet, bloß von der Kommune wird das Projekt nicht unterstützt. „Die Stadt weiß gar nicht, was für ein Zentrum sie beherbergt“, seufzt Paulo Azevedo. „Da wir an der Peripherie arbeiten, können wir die gängigen Vermarktungsmechanismen aber umgehen.“ Im Zentrum wird strikte Gleichberechtigung praktiziert: Auch die Jungs müssen die Toiletten putzen.

Paulo Azevedo, der das Zentrum zusammen mit Taís Vieira leitet, hat noch eine zweite Compagnie ins Leben gerufen, ein integratives Projekt mit behinderten und nicht-behinderten Performern. Auch ihr Stück „Procedimentos de um Pseudópodo – a coreografia“ gastiert in Berlin.

Anfangs werden ein Skateboard und ein Rollstuhl an Fäden über die Bühne gezogen. Doch es dauert nicht lange, bis der Rollstuhl kunstvoll zerlegt wird. Ein Luftikus vom Membros-Nachwuchs funkt dazwischen und schlägt der Schwerkraft ein Schnippchen. „Die Objekte und Hilfsmittel werden zum Teil des Körpers“, erklärt Azevedo, der selbst einmal mehrere Monate im Rollstuhl saß. Lustvoll experimentieren die Perfomer des Stücks mit verschiedenen Fortbewegungsarten, wobei die unmittelbare Nachbarschaft von Virtuosität und eingeschränkter Bewegungsfähigkeit keineswegs peinigend wirkt. Vielmehr lernen die Tänzer voneinander.

Geradezu verblüffend ist die Verwandlung des Performers Éverton Viana. Der kindliche Koloss mit den autistischen Zügen überrascht durch feines Gespür und sein feinmotorisches Geschick. Beim Tanz mit einem roten Luftballon gewinnt sein schwerer Körper erstaunliche Leichtigkeit. Ein zarter, tanzender Riese.

Brasil Move Berlim“ wird am Donnerstag, 16. April, mit „Bull Dancing“ von Marcelo Evelin und Demolition Inc. eröffnet (19.30 Uhr, am 17. April mit anschließendem Publikumsgespräch). Bis 26. April präsentiert das Hebbel am Ufer (HAU 1 - 3) insgesamt acht brasilianische Tanzkompanien. Programm- und Ticketinformation: www.hebbel-am-ufer.de.

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