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Helmut Schümann

© Kai-Uwe Heinrich

Erstbesteigung, Folge 4: Der Wagner-Novize trifft den Wissenden

Im Olympia der Oper: Helmut Schümann wagt sich für Tagesspiegel.de an seine ganz persönliche Erstbesteigung des Grünen Hügels - Folge 4: Die Erhabenheit ahnen.

Noch einmal der Rücken (sorry, lieber Leser "kilgore", ein letztes Mal, und gleich wird es hier um Erhabenheit gehen, nicht mehr um körperliches Befinden). Ich könnte mir natürlich ein Kissen für den Rücken leihen. Die gibt es hier, gleich neben dem Verleih für Operngläser. Die Kissen sind sehr bunt. Und wenn die Damen in ihren langen Roben und die Herren in ihren Smokings und die Herrschaften mit gelockertem Dresscode nach den diversen Akten zur Pause ins Freie strömen – ich bin von meinem Mittelplatz aus immer der Vorletzte, der raus kommt -, dann sieht es im Festsaal mit den vielen zurückgelassenen bunten Kissen aus wie nach dem Kindergeburtstag.

Aber will ich so ein Kissen? Ich meine, ich bin gegen Epo bei der Tour de France und überhaupt gegen Doping. Ein Kissen bei Wagner in Bayreuth, das wäre doch Epo, wäre Betrug und Fälschung. Ich muss pur und rein durch diesen Marathon, ich verfluche Wagner wegen dieser Stühlchen, so wie die Tour-Pioniere bei den ersten Bergüberquerungen den Streckenplanern zuriefen: „Ihr Mörder, ihr verfluchten Mörder!“, aber anders geht es nicht, soll ich Wagner gepolstert treffen?

Um im Sportvergleich zu bleiben: Es heißt, die Marathonläufer treffen irgendwann auf der Strecke auf die Mauer. Sie ist nur virtuell, nur eingebildet, aber durch die müssen sie durch. Dahinter warten die Endorphine, die Glückshormone. Meine Mauer wartet heute, sie hat einen Namen: „Siegfried“, Beginn: 16.00 Uhr, Ende: irgendwann nach 22:00 Uhr, Siegfried, der Held, wenn das keine Mauer ist, dann ist keine Mauer, dann ist der Tourmalet nur ein grüner Hügel.

Vorab wird es wieder erhaben zugehen, und so weit hat mich Bayreuth schon einverleibt, dass ich die Erhabenheit auch ahne, die über dem Hügel schwebt, wenn die Blechbläser eine Viertelstunde vor Beginn vom Balkon des Festspielhauses mit ein, zwei Fanfarenstößen in den Festsaal befehlen. Dann steht die fein gemachte Gesellschaft auf dem Vorplatz, blickt erwartungsvoll nach oben, und auch, wenn die Wagnerianer dieses Ritual in- und auswendig kennen, so ist doch Glückseligkeit zu sehen in Augen und Gesichtern.

Wie überhaupt Bayreuth zu strahlen scheint in diesen Tagen. Im Frühstücksraum des Hotels strahlen die Jünger Wagners, und in der Lohengrin-Therme, die wahrscheinlich Pflicht ist am freien Tag, auch für mich, da strahlen sie auch. „Bravo! Bravo!“ rufen sie am Ende jeden Aktes, jubeln, trampeln mit den Füßen. Ich bin noch zu sehr Novize, um beurteilen zu können, ob ein Zusammenhang besteht zwischen den langen Wartezeiten für die Tickets sowie dem nicht unerheblichen finanziellen Aufwand und der überschäumenden Begeisterung. Ich weiß nur, wenn ich jahrelang auf eine Sache hinsehne und sie dann endlich, endlich teuer erwerbe, den Alberich würde ich tun, um das Ereignis nicht großartig zu finden.

Um meinen Mittelplatz herum sitzen die Profis, die Musikkritiker, die nicht so tun, als würden sie Richard Wagner persönlich kennen, sie kennen ihn persönlich, auch wenn das biologisch nicht möglich ist. Sie kennen auch jede Note persönlich, sie hören sie im Voraus, und wenn sie nicht kommt, wie sie kommen müsste, dann zucken sie zusammen. Und dann kann einem passieren, ist mir passiert, dass ich in der Pause mit einem dieser Wissenden zusammensitze, und er freut sich aufrichtig über die wachsende Euphorie des Neulings und er sagt: „Aber Siegmunds Stimme ist einfach zu schwach.“ (Es gehört sich nicht, dass ich mit meiner Inkompetenz Echtnamen nenne.) Und ich sage, ja, jetzt, wo Sie es sagen, überzeugt es mich, stimmt, mir wäre es nicht aufgefallen, aber im Nachhinein, stimmt, ich habe ihn manchmal nicht gehört neben dem Orchester.

Der Wissende sagt: „Wir sind hier in Bayreuth, dem Olympia der Oper, da erwarte ich mehr als eine hausbackene Intendanz.“ Und ich sage, dass ich keine andere kenne, dass ich mitunter überwältigt bin von dem Bühnenbild, von der Wucht, vom Schauspiel, vom olympischen Ereignis.

Der Wissende sagt: „Ein Beispiel: Es gibt auch so etwas wie Personenführung. Der Wotan aber steht einfach nur rum, wenn er nicht singt, die Brünnhilde auch und Fricka machte nichts anderes.“

Die Wissenden sehen, wo die Wagnerianer blind sind vor Liebe und ich vor Ehrfurcht und Ahnungslosigkeit.

Aber was der Wissende über Wotan und die anderen aus der Walküre gesagt hat, das habe ich schon mal gehört, das hat mir mein Rücken am Vortag exakt auch so gesagt. Jetzt weiß ich, dass mein Rücken der viel sensiblere Zuhörer ist als ich. Ich werde doch seine Sinne nicht mit einem bunten Epo-Kissen einlullen. Wohlan, Siegfried, gib fein acht, wir kommen!

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