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Klassische Musik: Scheitelkunst: Beethoven auf den Kopf gestellt

Alles Frühe klingt spät, alles Liebliche gefriert: Das Artemis Quartett spielt Beethoven in Berlin.

Ein grandioses, so beflügelndes wie beklemmendes Konzert – die Piazzolla-Zugabe jedenfalls (und das sagt alles!), die das Publikum dem Artemis Quartett im nahezu ausverkauften Kammermusiksaal der Philharmonie abtrotzte, hätte es gar nicht gebraucht. Zwei Stunden Beethoven wie aus dem Bilderbuch des modernen Streichquartettspiels, die reine Kür, was Präzision und klangliche Homogenität angeht, oft bis in die letzten Bogenhaare hinein. Und doch: fast ein wenig zu penibel auf Perfektion bedacht, wie unter einer feinen Panzerglasglocke gespielt. Meister des gegenseitigen Sich-Überraschens, Ins-Wort-, ja In-den-Rücken-Fallens sind sie nicht, die „Artemisianer“, alles Ungebärdige ist ihnen suspekt. Wenn nur die langsamen Sätze nicht wären ...

Mit drei Werken setzt das Artemis Quartett nun seinen Beethoven-Zyklus fort, pflanzt sie wie Beutestücke auf Lanzen: das frühe, Haydn-nahe op. 18 Nr. 1, das grimmige „Quartetto serioso“ op. 95 und nach der Pause das späte, in jeder Beziehung völlig ausufernde op. 132. Ein Dreisprung, der die gemeine Beethoven-Interpretation ziemlich auf den Kopf stellt. Alles Frühe mutet plötzlich verrückt an und spät und überhaupt nicht klassisch, alles Liebliche gefriert, alles Kämpferische, Titanische ergießt sich in melancholische Weiten, die Angst machen, ja bestürzen und fast John Cage antizipieren oder Morton Feldman. Darunter machen es die „Artemisianer“ auch nicht. Ihr Beethoven mag Scheitel tragen statt Wuschelkopf – konventionell oder in irgendeiner Weise zufällig, gar beliebig ist er nicht.

Der Instinkt, mit dem Natalia Prishepenko, Gregor Sigl, Friedemann Weigle und Eckart Runge an den Stellschrauben eines Sonatensatzes wie dem Allegro con brio aus op. 18 drehen, die Aggressivität, mit der sie noch die Scherzo-Position in op. 95 aufladen – all das deutet auf Taten, die Beethoven kompositorisch erst sehr viel später begeht. Vor allem die langsamen Sätze offenbaren sich hier als visionär: mit fahlen, gleichsam entseelten Farben im Glitzergewebe des Adagio affettuoso ed appassionata von 1798, mit bitterem Allegretto-Biss 1810.

Die Potenz solcher Brüchigkeiten freilich erschließt sich erst im Rückgriff, vom zweiten Satz in op. 132 aus, dessen berühmter Titel – „Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit“ – nicht nur auf Autobiografisches verweist (Beethoven geht 1825 durch eine schwere Krankheit), sondern vor allem auf den Preis, den er künstlerisch fürs Überleben zu zahlen bereit ist. Als habe sich jedwede Form erübrigt, alles Gesellschaftliche sich über Musik-Verstehen und Verständigen auch, so spielt das Artemis Quartett diese Musik. Atemberaubend. Einzelne Töne im kahlen Raum, Tentakeln ins Nirgendwo, ein flüchtiges SichReiben des Viererklangs – und dann dieses ländlernde Tirilieren wie aus fernen glücklicheren Tagen, diese kleine bleiche Pirouette. Was für ein Gruß aus dem Diesseits. Am 21. April geht es weiter. 

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