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Musikfest: Blank & rein

Simon Rattle dirigiert Haydns "Jahreszeiten", und Tenor John Mark Ainsley wirft einen frischen Blick auf das Idyll.

„Seht!“ Ganze 26 Mal kommt dieses Wörtchen im Libretto von Haydns Oratorium „Die Jahreszeiten“ vor. Dass man auf die Idee kommen kann nachzuzählen, liegt an dem Tenor John Mark Ainsley. Denn der hat in dem Wörtchen den Schlüssel zu einer zeitgemäßen Haltung gegenüber Haydns Oratorium gefunden. Mit dem Auge eines Malers, der auch den scharfen Schatten bemerkt, der eine Sommerwiese durchzieht und der sich auch für die beunruhigende Kreatürlichkeit eines grasenden Ochsen interessiert, wirft Ainsley einen frischen Blick auf Haydns Idyll. Plötzlich macht es nichts mehr aus, dass das Werk nichts von Krieg oder Krankheit sagt: weil sich in jeder mitgeteilten elementaren Wahrnehmung die ungeteilte Erfahrungswelt des Betrachters mitteilt.

Selbst eine Christiane Oelze hat es trotz ihres betörenden Soprans und ihrem Mut zu Spielfreude plötzlich nicht leicht, jenes ach so unschuldige Bauernmädchen Hannchen zu verkörpern, das Ainsley zuvor aus der Perspektive des von der ersten Liebe buchstäblich betroffenen Lukas beschrieben hat. Auch Thomas Quasthoff, der bekennende Haydn-Fan und erfahrene Liedgestalter, erreicht nur für Momente die Intensität von Ainsleys Vortrag. Geradezu enttäuschend wirkt vor diesem Hintergrund das Dirigat Simon Rattles. Zwar gelingen ihm mit den Philharmonikern und dem Rundfunkchor Berlin grandiose Momente, so wie der Ausruf „Ewiger!“, bei dem sich Gefühle der Ehrfurcht und des Entsetzens mischen. Aber was bei Ainsley Konzept ist, bleibt bei Rattle Effekt: Gegenüber schwierigen Sätzen wie „Außen blank und innen rein, muss des Mädchens Busen sein“ ist er ziemlich ratlos.

Geradezu befreit wirkt Rattle daher, wenn er sich in den Chorfugen vom Zwang zur Wortausdeutung lösen und der Logik der absoluten Musik hingeben kann. Aber so bleibt Ainsleys letzter Satz „lasst uns streben“, den er mit der Glaubwürdigkeit eines „lasst uns diese Welt zu einem besseren Ort machen“ in die Menge ruft, länger im Ohr als der glänzende, aber kalte Prunk der Schlussfuge.

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