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"Prometheus": Das Leiden eines Gottes

Macht der Antike: Dimiter Gotscheff eröffnet mit "Prometheus" die Volksbühnen-Agora.

Ein paar Bretter nur, und sie bedeuten eine ganze Welt. Am Rosa-Luxemburg- Platz hat sich die Baustelle der Volksbühne in ein temporäres Amphitheater verwandelt. Links und rechts von Containern begrenzt, schmiegt sich der hölzerne Vorbau an das Volksbühnenportal mit seinen hohen, wuchtigen Säulen. Es ist ein Geniestreich, wie Bert Neumann hier einen neu-alten Theaterraum geschaffen hat, der das Stadtbild berührt, da er die Architektur des großen Theatertankers sanft ausstülpt und nach außen abrundet. Ein Raum für 400 Zuschauer auf steilen Rängen unter freiem Himmel, eine Agora.

Das Wort weckt so viele Sehnsüchte wie Assoziationen. Die griechische Agora (Betonung auf der letzten Silbe!) hat als Markt- und Versammlungsplatz, als kultisches und gesellschaftliches Zentrum gedient, sie war das pulsierende Herz der Polis. Eine Stadt ohne Agora galt als unzivilisiert, gesetzlos und nicht souverän. Und wenn die Planer des Humboldt-Forums im Stadtschloss noch reichlich nebulös von ihrer Agora sprechen, dann geht es idealerweise auch um mehr als einen bloßen zentralen Treffpunkt. Es hängt das ganze humanistische Verständnis an diesem Begriff, die Agora ist der Ort der Kultur schlechthin.

In den Städten stehen die Theater auf diesem Platz, und wenn man das Wesen des Stadttheaters ernst nimmt, es nicht zum Schimpfwort macht, dann erfüllt der Theaterbetrieb auch jenen freiheitlichen Zweck der Versammlung und der Debatten. In den besten Jahren hat die Volksbühne wie kein anderes Berliner Haus in den Hauptstadtraum ausgestrahlt, ihre Spektakel und Aktionen überschritten die Grenze von Kunst und Politik. Etwas von diesem durchdringenden Geist ist jetzt wieder spürbar in Bert Neumanns hochfahrender Bretterbude, und das Eröffnungsstück, der „Prometheus“ des Aischylos, hat programmatischen Charakter. Aus der Übersetzung von Heiner Müller und Peter Witzmann spricht die Auseinandersetzung mit den Utopien und totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts.

Es ist die Geschichte des Halbgotts, der den Menschen das Feuer bringt, die Künste, die Techniken der Zivilisation. Er wird für diesen Verrat am göttlichen Privileg mit Folter und Verbannung bestraft. Mit Prometheus kommen die Menschen ins rädernde Spiel der Mythologien, und mit ihnen die Künstler und Intellektuellen; meist die ersten Opfer der Gewaltherrschaft. Der Tyrann Zeus will die Menschheit ausrotten und neue Wesen erschaffen. Prometheus, ursprünglich ein Weggefährte des stalinistischen Herrn des Himmels, stellt sich Zeus in den Weg. Eine Revolutionsgeschichte.

Prometheus, an einen Fels im Kaukasus geschmiedet. Wie zeigt man das auf den Stufen der Volksbühne, im aufgeschütteten Sand? Regisseur Dimiter Gotscheff und sein Bühnenbildner Mark Lammert finden, wie bei ihren „Persern“ am Deutschen Theater, eine bestechend einfache, symbolische Lösung. Keine gelbe Wand diesmal, sondern eine haushohe Fahnenstange. An ihr klebt, hängt, hockt Prometheus. Bespielt werden auch die Baucontainer – und hoch oben auf dem Volksbühnendach, wo die Krähen kreisen, schreit Io ihr Leid heraus; auch sie verfolgt von Zeus. Sand, Säulen, Stufen, Stange: eine elementare Anordnung.

Fünf Männer tasten sich in den Text hinein. Sie sind laut, oft viel zu laut, wohl aus Furcht, vom Straßenlärm übertönt zu werden. Und wie sie brüllen und skandieren, wird das Sprachstück zum körperlichen Exzess: Frank Büttner windet, quält sich übermenschlich. Ihm, Hephaistos, fällt die entsetzliche Arbeit zu, Prometheus an den Fels zu hauen. Max Hopp ist der Schmerzensmann. Er meißelt die Worte mit Zähnen. Die Monologe drehen ihm die Eingeweide um. Er kämpft wie ein Berserker, die intellektuelle Oberhand zu behalten in der Folter. Hopp, einst der Biberkopf in Frank Castorfs „Berlin Alexanderplatz“, leistet Athletisches.

Es liegt ein didaktischer Ansatz im Sprechen, das Gotscheff choreografiert hat, mit den Wiederholungen, den Befragungen der Worte. „Fleisch an Stein“. „Schwächer als der Zwang ist die Kunst“. Der martialische Müller-Sound. Politische Rede: Thorsten Mertens Meeresgott Okeanos schlawinert opportunistisch durch die Sphären, Trystan Pütters Götterbote Hermes gefällt sich als zynischer, ölglatter, sadistischer Handlanger. Den Chor reduziert Gotscheff auf eine einzige Figur, den jungen Sebastian König. Er ist das Volk: vorsichtig, ängstlich den Herrschaftstext nachbetend, aber auch auf dem Sprung zur Umwälzung. Maia Alban-Zapatas Io verbrennt in Hysterie und Panik.

Kaum Momente der Stille. Die Antike schreit uns an. Aber sie hat uns viel zu erzählen, durch Müller und Gotscheff. Dieser Prometheus von Max Hopp – ist er nicht auch ein Christus? Leidet er nicht für die Menschen, der von Gott gequälte griechische Gott? Sein Kreuz ist die Stange. So uralt ist das alles, was in diesen Tagen im Skandal um den Hessischen Staatspreis, um die Natur des Kreuzes und den katholischen Alleinvertretungsanspruch aufbricht – viel älter als die christliche Überlieferung, die auf archaischen Symbolen und Mythen gründet. Und ist nicht auch das Neue Testament in der Sprache des Aischylos geschrieben? Die Antike lebt. Ein starker Angang in der Agora.

„Prometheus“ wieder am 22., 23., 29. Mai sowie am 1., 4., 13. und 29. Juni. Am 27. Mai hat „Vögel ohne Grenzen“ nach Aristophanes Premiere (Regie: Jerome Savary). Die Agora der Volksbühne ist geöffnet bis 12. Juli.

Rüdiger Schaper

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