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Radialsystem: Wer spielt hier mit wem?

Im Radialsystem erprobt das Solistenensemble Kaleidoskop, wie sich künstlerische Freiheit anfühlt.

Sie sind dann mal da. Und für ein Kammerorchester, das in Berlin nachhaltig auf sich aufmerksam machen will, haben sie sogar erstaunlich wenig Zeit zum Ankommen gebraucht. Erst 2006 nämlich entschlossen sich der Cellist Michael Rauter und der Dirigent Julian Kuerti, ihren persönlichen Traum vom Orchestermusikerdasein zu verwirklichen. „Die Idee war ganz einfach“, sagt Rauter: „Wir wollten Konzerte spielen, in die wir selber gerne gehen würden.“ Und mit der Idee war das „Solistenensemble Kaleidoskop“ geboren. Schon der Name deutet an, dass bei den 14 Streichern, zu denen je nach Projekt noch weitere Musiker hinzutreten, einiges anders läuft als in herkömmlichen Formationen. Jederzeit soll es für die Musiker möglich sein, in einem Programm auch als Solisten oder Kammermusiker hervorzutreten: „Dass man einen Orchestermusiker ein Solo spielen lässt, dann eine Sinfonie folgt und dann ein Streichquartett – solche Zusammensetzungen sind sonst nicht möglich“, sagt der 1980 geborene Rauter.

Aber nicht nur die Besetzungen sind es, die kaleidoskopartig schillern: Es sind auch die musikalischen Stile, mit denen man sich beschäftigt, sowie die Art und Weise, mit der Konzertsituation und dem Raum umzugehen. Im Ballhaus Naunynstraße beschäftigten sie sich mit Werken der Fluxus-Bewegung der 60er und 70er Jahre. Die zentrale Erfahrung war die Produktion „Hardcore“, die das Ensemble 2007 mit der Künstlerin und Bühnenbildnerin Aliénor Dauchez wagte. Hier setzten sich die Musiker erstmals offensiv mit der Bühnenrolle auseinander, die jeder Musiker spielt – und fanden überraschende Antworten auf die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Publikum und Musiker untersuchen lässt: Da wechselte man zwischen extremer Distanz und extremer Nähe, Musiker spielten aus dem Off, um urplötzlich aus dem Dunkel aufzutauchen und das Publikum in geradezu aufdringlicher Nähe zu umringen.

Und überrascht stellte man fest, dass sich ein solch bewusstes Spiel mit Raum, Konzertsituation und Körperlichkeit des Musikers nicht nur bei neuen Komponisten funktioniert, sondern beispielsweise auch mit einer experimentellen Symphonie eines der Söhne von Johann Sebastian Bach. Der künstlerische Höhepunkt der ersten, völlig ohne Gagen bestrittenen Jahre trug das Ensemble dann auch über eine kurze Periode der Neuorientierung hinweg: Zum einen verließ Mitbegründer Julian Kuerti das Ensemble, um Assistent von James Levine in Boston zu werden. Volker Hormann, den Michael Rauter noch aus dem Bundesjugendorchester kannte, stieg als Manager mit ins Boot. Fast zeitgleich musste man das Ballhaus Naunynstraße verlassen, das seinen Schwerpunkt auf multikulturelle Projekt verlagerte. Wenig spielten sie zu einer Ausstellungseröfnung im Radialsystem – und wurden offizielles „Hausensemble“.

Besonders schätzen die Musiker hier die Möglichkeit zum intensiven Austausch mit Künstlern anderer Sparten wie der Tanzcompagnie von Sasha Waltz, die im Radialsystem beheimatet ist. Wobei sich neben den großen Projekten auch kleine Kooperationen zwischen einzelnen Tänzern und Musikern entwickeln. Inzwischen hat man auch mit dem „Pianist in Residence“ Caspar Frantz eine für ihre Reife gepriesene Aufnahme von Haydn-Klavierkonzerten vorgelegt. Und wenn man ein Barockmusik-Programm vorbereitet, dann schaut auch gerne einmal der Konzertmeister der Akademie für Alte Musik vorbei, um die jungen Kollegen zu coachen.

Inzwischen wurden sogar die Dirigenten Simon Rattle und Lothar Zagrosek bereits im Publikum gesichtet. Vor allem aber ziehen die Projekte ein geradezu unverschämt junges und erstaunlich offenes Publikum an: Menschen, die bereit sind, sich mit Schlafbrille und Staubschutzmäntelchen unter eine mit bedrohlichen Zacken von der Decke hängende Architekturinstallation zu legen oder die Musiker dabei zu verfolgen, wie sie ein unwillkürliches Notenpulterücken in eine Performance übergehen lassen, oder wie sie mitten in ein besonders nervend gestaltetes Cage-Stück die Schönheit einer barocken Fantasie explodieren lassen.

Dass es nach den Aufführungen auch heftige Diskussionen gibt, kann Michael Rauter gut aushalten: „Wir haben keine Angst vor dem Scheitern“, erklärt er mit verschmitztem Lächeln. Wohl deswegen, weil er weiß, dass der Mut des Ensembles, sich nicht hinter dem hervorragend beherrschten eigenen Handwerk zu verstecken, vom Publikum geteilt wird: „Auch wenn ich selber beim Spielen irritiert bin, interessiert mich das mehr, als zu sagen: So, das habe ich seit sechs Monaten genau so geübt und nun mache ich es genau so, wie ich es vorbereitet habe. Man kann doch auch ein Stück nicht zweimal gleich spielen wollen.“

Noch gehört es zum Traum von der absoluten künstlerischen Freiheit, dass man nicht nur das Programm selbst gestaltet, sondern auch mal den Saal nach der Vorstellung selber ausfegt. Die Chancen, dass sich diese Situation durch vermehrte Auftritte bei auswärtigen Festivals entspannt, stehen jedoch nicht schlecht. Gut ist es jedenfalls, dass Kaleidoskop endlich in Berlin angekommen ist.

Weitere Informationen unter: www.kaleidoskopmusik.de

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