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Ruhr 2010: Hier geht’s lang!

Sechs Dramen in sechs Städten: Die Metropole Ruhr 2010 lädt zur zweitägigen „Odyssee Europa“ – mit Reisebegleitung

Ist das schon Teil der Verirrungs-Dramaturgie oder nur schlechte Organisation? Man steht wie am Flughafen in einem gewundenen Gang, um sich im Foyer des Essener Theaters in die „Odyssee Europa“ einzuchecken – als es plötzlich nicht mehr weiter geht. Der Gang endet inmitten eines labyrinthischen Gevierts, rechts, links, vorne und hinten, überall blaue Absperrungsbänder. Ist das die erste Prüfung, der erste Schritt auf einer existenziellen Verwandlungsreise zum inneren Odysseus, zum inneren „Niemand“? Doch da springt eine freundliche Dame herbei, zupft das Band aus der Halterung und sagt: Hier entlang bitte! Wie hatte es schon die Pressedame bei der Ticketausgabe lakonisch auf den Punkt gebracht? Im Gegensatz zu Homers Odysseus sind Sie auf unseren Wegen gut versichert.

Es ist das Theaterereignis der Metropole Ruhr zum Kulturhauptstadtjahr 2010. Die sechs Theater von Moers bis Dortmund haben sechs europäische Autoren beauftragt, sich theatralisch mit Homers Odyssee zu befassen. Die sechs Stücke werden an zwei Tagen hintereinander weg gezeigt: eine Reise in die Zwischenwelt für jeweils 400 Zuschauer, unterwegs von Theater zu Theater mit Bus, Straßenbahn oder dem Ausflugsdampfer Santa Monica auf dem Rhein-Herne-Kanal. Es geht an Industrieanlagen vorbei, durch zersiedeltes Niemandsland und bei Regen und Sturm immer wieder auf die Autobahnen 40 und 42.

Verloren geht in diesen 36 Stunden freilich niemand, dank der zahlreichen blau gekleideten Freiwilligen, die blaue Hier-gehts-lang-Schirme in die Höhe halten. „Odyssee stelle ich mir anders vor“, sagt ein griesgrämiger Kollege, „das ist ja wie eine Butterfahrt.“ Ein anderer ist dagegen begeistert: „Man redet mit wildfremden Menschen über Inszenierungen. Es entsteht das, was Theater früher ausgezeichnet hat: Gemeinschaft.“

Apropos Gemeinschaft: Während eines sogenannten Gastmahls in einer Dortmunder Kulturhalle, wo alle gemeinsam speisen, entspinnt sich ein interessantes Gespräch über Nacktheit auf der Bühne. Sowohl in der Inszenierung von Emine Sevgi Özdamars Stück „Perikizi“, einem Traumspiel, in dem ein türkisches Mädchen ins fremde Europa aufbricht, als auch in Peter Nadas’ lyrischem Satyrspiel „Sirenengesang“, in dem die Gräueltaten der Odyssee mit denen der jüngeren Geschichte kurzgeschlossenen werden, müssen sich Schauspielerinnen ausziehen, werden teilweise vergewaltigt und mit Wasser abgespritzt.

Eine Besucherin findet: „Kann man vom Leiden nicht subtiler erzählen?“ Ihr Ehemann fragt: „Ist das heute so üblich, diese Nacktheit auf der Bühne? Mich würde interessieren, ob das auch vertraglich geregelt ist: Ist der Schauspieler verpflichtet sich auszuziehen?“ Da niemand Genaueres über Nacktheitsparagrafen in Schauspielerverträgen weiß, wendet sich das Gespräch schnell anderen Themen zu, den Kindern und den Enkeln. Das mit der Butterfahrt stimmt also auch.

Zum Glück haben sich die beteiligten Theater auch etwas wirklich Odyssee-mäßiges, also Unvorhersehbares einfallen lassen. Die Theatergruppe „Raumlabor“ organisierte 400 einheimische Gastgeber als Reisebegleiter. Eben noch wohnt man in der Auftaktinszenierung des Polen Grzegorz Jarzyna, der sein eigenes Stück „Areteia“ atmosphärisch dicht in Szene setzt, einem reichlich pathetisch gespielten doppelten Vatermord bei – da entdeckt man kurz darauf sein Namensschild in der Menschenmenge vor dem Theater in Essen und wird von einem Ehepaar freundlich begrüßt. Ob man lieber türkisch oder italienisch zu Mittag essen wolle.

Und schon sitzt man in einem Toyota Auris, also im Leben wildfremder Menschen, und wird zu dem Gelände gefahren, auf dem Thyssen/Krupp gerade seine neue Hauptverwaltung errichtet. „Damit die Manager während der Arbeit nicht auf einen hässlichen Supermarkt gucken müssen, wird der Real dahinten noch abgerissen“, sagt die Begleiterin von der Rückbank. „Hier war früher auch ein Straßenstrich. Der wurde natürlich auch aufgelöst.“ Ihr Mann nickt, dann geht’s weiter, erst durch das „Kreuzberg Essens“, dann zu dem Schloss, wo die beiden vor einigen Jahren geheiratet haben. Die Gastgeber hatten von „Raumlabor“ den Auftrag bekommen, ihre Gäste zu ihren Lieblingsorten zu führen.

Auf der S-Bahn-Fahrt nach Bochum berichten sie von ihrer ehrenamtlichen Arbeit: dass sie mit Kindern alleinerziehender Mütter Ausflüge machen, die sonst nur vor dem Fernseher säßen. Dass sie Ausbildungspaten von Hauptschülern sind und ihnen bei Bewerbungsschreiben und auch sonst mit Rat und Tat zur Seite stehen. Fürsorglich wird man am Schauspiel Bochum abgeliefert, am späten Abend in Oberhausen wieder abgeholt und im Gästezimmer beherbergt.

Gegen solche Begegnungen kommen die meisten Aufführungen freilich nicht an. Auch nicht der „Der elfte Gesang“ von Roland Schimmelpfennig in Bochum. Schimmelpfennig führt seinen Odysseus in die Unterwelt, damit dieser erfährt, warum er seit Jahren herumirrt. Der Text besteht zu großen Teilen aus Originalpassagen, die sich nicht mit den Gegenwartsbezügen verbinden wollen. Ein „Arzt um die fünfzig“ oder „eine asiatische Frau vom Gemüseladen“ stehen in der hilflos statischen Inszenierung von Lisa Nielebock in einer Bühnenbox herum, während Wolfgang Michael als Odysseus mit melancholischer Antriebslosigkeit sein Schicksal beklagt.

Schimmelpfennigs Text und auch Jarzynas „Areteia“ kleben zu stark an der Ur-Erzählung – was man von „Penelope“des Briten Enda Walsh nicht behaupten kann. Walsh konzentriert sich auf die Freier, die während Odysseus’ Abwesenheit Ithaka belagern und um Penelopes Gunst buhlen: vier arme Würstchen, die sich in einem heruntergekommenen Pool wie Penner eingerichtet haben, sich in Konkurrenzkämpfen aufreiben und einmal am Tag verlogene Liebesmonologe an die stumme Penelope richten. Die jedoch lässt – unerreichbar und ikonenhaft – nur kurze Blicke auf sich zu, um schnell wieder hinter einem Rollo im Reich der Projektionen zu verschwinden.

Auch wenn man sich fragt, warum die Schauspieler in Oberhausen so brüllen müssen, die moralische Verkommenheit der Freier, die grotesken Rituale der Erniedrigung entwickeln einen Sog.

Aber erst, als am nächsten Tag Emine Sevgis Özdamar in einer Nebenspielstätte des Schlosstheaters Moers von der Reise des jungen türkischen Mädchens Perikizi nach Deutschland erzählt, ist endlich auch etwas von homerischem Aufbruch zu spüren. Leider verliert sich das Stück in plakativen Märchenszenen, in denen sich die Deutschen erwartungsgemäß nazihaft und die Türken erwartungsgemäß frauenfeindlich verhalten. Zum Glück fährt hin und wieder ein dreirädriges Gogomobil mit trommelnden Musikern durch die Halle und sorgt für Stimmung.

Die meisten Autoren hat weniger die Odyssee als der Moment der Rückkehr interessiert, der Moment der Ernüchterung. Auch Christoph Ransmayr konzentriert sich in „Odysseus, Verbrecher“ darauf. Statt des vertrauten Ithaka findet er eine radikal modernisierte heutige Insel vor, in der schwarze Flüchtlinge aus rostigen Kuttern ausgehungert an Land taumeln, um von Menschenhändlern an „Salzbarone“ weiterverkauft zu werden. Auch bei Ransmayr verleitet Odysseus seinen Sohn zum Mord, macht ihn, wie Penelope ihm vorwirft, zu „Seinesgleichen“. Nur sind die Freier in dieser Studie über die Desillusionierung eben keine Freier, sondern selbst ernannte Gesellschaftsreformer. Das realistische Setting des Textes steht am Dortmunder Schauspielhaus allerdings im Kontrast zu Michael Gruners ästhetisierter Kammerspiel-Inszenierung, in der die Toten ihre Gesichter zeigen, während die Lebenden hinter Masken unkenntlich bleiben.

Und was nimmt man mit nach 36 Stunden Odyssee, nach über zwölf Stunden Theater? Vor allem die Lust, wieder mal Homer zu lesen. Am Ende drängen 400 Reisende mit Rollkoffern aus dem Theater in einen stürmischen Abend. Sagt eine der Reisestewardessen zu einer Besucherin: „Sind Sie nicht Frau Müller? Ich soll Ihnen von Ihrem Gastgeber ausrichten, dass Sie wegen des schlechten Wetters gerne nochmal bei ihm übernachten können.“

Es sind nicht die Geschichten über schuldig gewordene Männer, verlassene Frauen und vaterlose Söhne – es ist die Offenheit realer Menschen, die einen bei diesem Theatergroßereignis berührt.

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