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© Heiko Schäfer

Schaubühne in Tel Aviv und Ramallah: Gruppentherapie auf deutsch, israelisch und palästinensisch

Wie die israelische Regisseurin Yael Ronen Grenzen sprengt: Mit der Berliner Schaubühne in Tel Aviv und Ramallah.

Zackig schreitet der Berliner Schauspieler Matthias Matschke an die Rampe des Tzavta-Theaters in Tel Aviv. „Natürlich war es richtig und wichtig, Gelder an Israel zu zahlen“, räumt er gönnerhaft ein. Dann biegt er seinen Körper in eine leicht verklemmte Angriffshaltung: „Aber irgendwann kommt man vielleicht auch an einen Punkt, an dem man so etwas wie einen Schlussstrich ziehen und wieder anfangen sollte, an seine eigene Zukunft zu denken, an seine eigenen nationalen Interessen.“

Matschke scheint sich nicht so richtig wohlzufühlen in der Haut des akademischen Chauvinisten: Der Schauspieler, der die Rolle erst kürzlich von seinem Kollegen Karsten Dahlem übernommen hat, bleibt auf Distanz zu seiner Figur. „Versuch es mal freundlicher“, ruft die israelische Regisseurin Yael Ronen ihm auf Englisch zu. „Gerade weil es so heftig ist, muss es nett klingen!“

Matschke ist nicht der Einzige, der an diesem Nachmittag verständliche Schwierigkeiten hat, aus voller Kehle den deutschen Nationalisten zu geben. Es sind die letzten Proben vor der IsraelPremiere von Ronens work in progress „Dritte Generation“, einer Koproduktion der Berliner Schaubühne mit dem Habimah-Nationaltheater Tel Aviv.

Herausfordernder könnte ein Theaterprojekt kaum sein, zumal an diesem Ort. Ronen bittet drei junge israelische und drei palästinensische Schauspieler, die mit israelischem Pass in Tel Aviv oder Haifa leben, zusammen mit vier deutschen Akteuren zur Gruppentherapie. Und die ist so befreiend und politisch unkorrekt, wie mentale Tiefenbohrungen eben sein müssen, wenn sie unter den Verkrustungen und Verklemmungen wirklich zu den Wunden vordringen wollen. Mit tiefschwarzem Humor und ohne Rücksicht auf Schmerzgrenzen hauen sich die Akteure gegenseitig ihre Biografien und Ressentiments um die Ohren: die Enkel der Holocaust-Täter, der Opfer und der Überlebenden, die 1948 den Staat Israel gründeten, genauso wie die Enkel der Palästinenser, die damals vertrieben oder zu „Bürgern zweiter Klasse“ wurden.

Keine Seite wird geschont. Die Palästinenser freuen sich über Paradefernsehrollen als „sensible Selbstmordattentäter mit großem Herzen“. Die Deutschen treten in ein hochnotpeinliches Entschuldigungsfettnäpfchen nach dem nächsten: „Bei dir, Ishay“, wendet sich etwa der aufreizend naive Betroffenheitsfachmann Niels Bormann an seinen jüdischen Kollegen Ishay Golan, „möchte ich mich dafür entschuldigen, was deinem Großvater in Sachsenhausen passiert ist. Der ist dort im elektrischen Zaun zu Tode gekommen. Sorry, Ishay!“

Und Ishay Golan selbst wirbt mit zwei Landsfrauen als Teenie-Combo um Geldspenden für historische Bildungsreisen: „Wir waren in fünf Konzentrationslagern“, rechnet er vor. Birkenau sei „cool“ gewesen, Treblinka enttäuschend: „Nur Gras und Steine und so Zeug.“ Aber dann: „Auschwitz – das war echt wowowowow!“ Golans Kollegin Ayelet Robinson stimmt dazu Gitarren-Agitpop an: „Don’t stop sending us to Auschwitz, so Auschwitz won’t happen again.“

Als die Produktion im März dieses Jahres an der Berliner Schaubühne Premiere hatte, horchte man als Zuschauerin permanent in sich hinein, ob es wirklich in Ordnung ist, jetzt zu lachen. In Israel gilt indes schon die Tatsache, dass Israelis, Palästinenser und Deutsche gemeinsam auf der Bühne stehen, als derartiger Tabubruch, dass die Regierung zu dem Projekt von Anbeginn ausdrücklich auf Distanz gegangen war. Von israelischer Seite musste Habimah-Chef Ilan Ronen, Yael Ronens Vater, das finanzielle wie ideelle Risiko dieser Koproduktion allein tragen.

Während einer Voraufführung Anfang des Jahres in Tel Aviv hatte eine ranghohe Mitarbeiterin des israelischen Außenministeriums demonstrativ das Theater verlassen. Die Produktion relativiere den Holocaust und hebe ihn auf eine Ebene mit der Vertreibung der Palästinenser, lautete der Hauptvorwurf. Aus demselben Grund war es auch vor der Berliner Premiere zu Protest gekommen, der sich hinterher allerdings schnell beruhigte. Der Gemeindeälteste der Jüdischen Gemeinde, Isaak Behar, hatte die Leitung der Schaubühne seinerzeit in einem offenen Brief aufgefordert, von der Aufführung abzusehen. Man kann sich die Anspannung vorstellen, die vor der Israel-Premiere über dem Tzavta-Theater lag; einer kleinen Kellerbühne im Untergeschoss einer Shopping-Mall, wo das Habimah seine Ausweichspielstätte bezogen hat, während das imposante Stammhaus am Rothschild-Boulevard saniert wird.

Niels Bormann, der grandiose Sorry-Trottel, betritt als Erster die Bühne. „Eigentlich seht ihr aus wie die Leute in Deutschland“, kumpelt er sich in peinlichster Übergriffigkeit an das Publikum heran, „bloß ein bisschen dunkler und kürzer.“ Und während man als deutsche Zuschauerin unwillkürlich fünf Zentimeter tiefer in seinem Sitz versinkt, passiert etwas unglaublich Erhebendes: Der Theatersaal bebt vor Gelächter.

Das Premierenpublikum, eine ausgeglichene Mischung aus zweiter und dritter Generation, goutiert auf Anhieb Yael Ronens Methode. Sobald man denkt, jetzt sei die Schmerzgrenze endgültig ausgereizt, dreht die Regisseurin die Schwarzhumor-Schraube zuverlässig noch ein paar Millimeter weiter und wechselt geschickt die Perspektive, so dass es völlig unmöglich wird, sich in vermeintlichen Gewissheiten einzukuscheln. Als sogar Matthias Matschkes „Schlussstrich“- Chauvi Szenenapplaus bekommt – für den „Mut, unliebsame, aber sicher äußerst virulente Ressentiments auszusprechen“, wie es später im Publikumsgespräch heißt – wird die Hyperaufgeklärtheit ihrer Landsleute der israelischen Schauspielerin Orit Nahmias zu viel. „Ihr applaudiert dem auch noch? Seid ihr verrückt?“, ruft sie den Zuschauern von der Bühne aus zu.

Der Abend ist ein seltener, gänsehautverdächtiger Glücksfall. Meist hinkt das Theater der Politik ja gnadenlos hinterher; bestenfalls begegnet es ihr auf Augenhöhe. Wenn es ihr hingegen drei Schritte voraus ist, verschieben sich für ein paar erhabene Minuten tatsächlich sämtliche Horizonte. Allein die beiden Mitarbeiterinnen des israelischen Außenministeriums – die einzigen offiziellen Regierungsvertreter, die zur Premiere erschienen sind – mochten sich trotz des Erfolgs nicht zur Unterstützung des Projekts umstimmen lassen. Ilan Ronen ist dennoch optimistisch: „Wer weiß, vielleicht zeigen wir den Abend nächstes Jahr in Ramallah.“ Schließlich hätte bis vor kurzem auch niemand gedacht, dass solch eine Produktion in Tel Aviv möglich sei.

Ortswechsel. Einen Abend später und anderthalb Taxistunden östlich der Mittelmeerstadt, im Al-Kasaba-Theater in Ramallah, sitzt der Theaterleiter George Ibrahim in seiner gemütlichen Theaterkneipe und schüttelt den Kopf: „Unmöglich, ,Dritte Generation’ hier zu zeigen.“ Thomas Ostermeier, der Chef der Berliner Schaubühne, hat dafür Verständnis. Er und sein ehemaliger Chefdramaturg Jens Hillje, die im Zuge ihrer internationalen zeitgenössischen Dramatik-Festivals bereits viel mit israelischen und palästinensischen Künstlern gearbeitet haben, wissen längst, dass sich die Realität in Ramallah wesentlich komplizierter anfühlt, als sich das so mancher wohlmeinende Kulturbotschafter von Berlin aus vorstellt.

Während die einen Ronens Projekt vorwerfen, dass die Palästinenser in den besetzten Gebieten es nicht sehen können, halten andere es für viel schwieriger, Israelis dort auftreten zu lassen und so eine Normalität zu behaupten, die de facto nicht existiert. Er würde sich auf jeden Fall mit sehr vielen Palästinensern beraten, bevor er Aktivitäten dieser Richtung unternimmt, sagt Thomas Ostermeier unaufgeregt.

In Ibrahims Haus läuft an diesem Abend einmalig und unter entsprechender Fernsehpräsenz ein Geschichtsstück des jungen palästinensischen Autors und Regisseurs Amir Nizar Zuabi, der auch schon in der Schaubühne gearbeitet hat. 1948 in einem palästinensischen Dorf angesiedelt, erzählt „Ich bin Yusuf und das ist mein Bruder“ eine tragische Liebes- und eine rührselige brüderliche Familiengeschichte vor dem Hintergrund des ersten israelisch-arabischen Kriegs. Der Abend, der in seinem verfremdungsfreien Eins-zu-eins-Stil in maximalem Kontrast zu Yael Ronens Projekt steht, endet mit stehenden Ovationen.

Natürlich könne man den Holocaust und die „Nakba“, die „Katastrophe“, wie die Vertreibung der Palästinenser bei der israelischen Staatsgründung im arabischen Sprachgebrauch heißt, nicht vergleichen, sagt die palästinensische „Dritte-Generation“-Schauspielerin Rawda, die mit israelischem Pass in Haifa lebt, auf der Rückfahrt nach Tel Aviv. Aber der Holocaust sei Geschichte, die Nakba ereigne sich jeden Tag im Westjordanland aufs Neue. „Wenn der Premierminister vom jüdischen Staat spricht, bin ich nicht gemeint“, erklärt Rawda, während das Taxi auf den Checkpoint mit einer jungen bewaffneten Soldatin zufährt. „Deshalb habe ich an diesem Projekt teilgenommen: um in Israel die Stimme der Palästinenser hörbar zu machen, die sich nicht äußern können.“

Zurück in Tel Aviv, sieht man noch einmal wesentlich klarer, wie weit Yael Ronens Projekt der offiziellen Politik tatsächlich voraus ist. In der letzten Vorstellung der „Dritten Generation“ sitzt der Jugendklub des Habimah-Theaters. Beim anschließenden Publikumsgespräch stellt sich heraus, dass der Großteil der jungen Israelis nicht weiß, was die Nakba ist. Die 33-jährige Regisseurin Yael Ronen, deren Großmutter mütterlicherseits ihre gesamte Familie im Holocaust verloren hat, wirkt in alledem geradezu überirdisch freidenkerisch und fair. Der Eindruck täusche, lacht sie. Es gebe durchaus Momente, in denen ihr dieses oder jenes Statement eines Schauspielers bei einem Publikumsgespräch äußerst unangenehm sei. „Ich bin nicht objektiv“, stellt Ronen klar, „sondern einfach nur geduldig.“

Nächste Vorstellungen in der Schaubühne am 4. und 5. November.

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