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Theater heute: Das Spiel, das uns trifft

Das Theater muss Politik und Macht ernst nehmen – sonst verliert es sich selbst. Einige Bemerkungen zum Beginn der neuen Saison von Peter von Becker.

Eine Zäsur steht an, im Deutschen Theater wie im deutschen Theater. Diese doppeldeutsche Pointe ist nicht gesucht, sondern gefunden. Denn wenn jetzt Ulrich Khuon seine Intendanz an Berlins Deutschem Theater eröffnet, dann strahlt das aus auf die gesamte Szene. Khuon war am Hamburger Thalia-Theater zuletzt der erfolgreichste Schauspielchef weit und breit, und er übernimmt ein Haus, das zuvor in der Ära des Intendanten Bernd Wilms nicht nur wieder ein Mittelpunktstheater in der Mitte der Hauptstadt wurde, sondern zum lange erhofften Glücksfall einer produktiven Vereinigung von spezifisch ost- und westdeutschen Schauspieltraditionen.

Dieser Glücksfall kristallisierte sich vor allem in den späten, wunderbaren Aufführungen des von Ost nach West nach Mitte gewanderten, nun viel zu früh gestorbenen Regisseurs Jürgen Gosch. Gerade ist „Die Möwe“, Goschs letzte Tschechow-Inszenierung am Deutschen Theater, von den Kritikern zur Aufführung des Jahres gewählt worden, wie davor auch sein „Onkel Wanja“, den man bislang sogar als Aufführung des Jahrzehnts bezeichnen könnte.

Gosch wurde zum melancholischen, feinsinnigen Triumphator, nachdem man ihn kurz vorher noch in einer unsinnigen Kampagne wegen seines nackt und blutig gespielten Düsseldorfer „Macbeth“ zum Buhmann eines deutschen „Schmuddeltheaters“ skandalisieren wollte. Zum wirklichen Skandal wurde diesen Sommer auch nicht Daniel Kehlmanns viel zu pauschaler Versuch, auf den Salzburger Festspielen mit einem angeblich autorenfeindlichen, nur noch selbstherrlichen (oder eigendämlichen) „Regietheater“ abzurechnen. Doch es reichte immerhin zum kurzen Aufschrei – und appellierte an ein durchaus vorhandenes Unbehagen in der neueren deutschen Theaterkultur.

Der überregionale, im Publikum und zugleich auch bei vielen, insbesondere jüngeren Theaterleuten spürbare Erfolg von Jürgen Gosch verweist ja zugleich auf einen tiefer empfundenen Mangel in anderen, oft nur kurzfristig akklamierten Interpretationen vor allem älterer Stücke, deren poetische Komposition, deren abgründige Menschen-Erzählungen und politisch-gesellschaftlicher Anspielungsreichtum verloren gegangen ist in zersplitternden kabarettistischen Nummern oder den Zeugnissen einer epidemisch verbreiteten Videoclipschulbildung.

Mit den Worten des großen, tragischen Einar Schleef bezeichnet das ein Theater, das nicht mehr schmerzt und nichts mehr trifft, weil „es um nichts mehr geht“. Dieses postmoderne, prämortale Gefühl eines anything goes, but nothing matters ist heute auch in anderen Künsten nicht fremd. Aber im Theater, das in Deutschland, Österreich und der Schweiz wie keine andere Kunstart öffentlich gefördert und in der Nachfolge von Aufklärung, Idealismus und linkem Brecht-Erbe noch immer als gesellschaftliche Veranstaltung jenseits der schieren Unterhaltung verstanden wird, in diesem Theater wirkt die erwähnte Unverbindlichkeit und Leere fatal. Auch deshalb will die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste (mit Sitz in Frankfurt am Main) am 5. Oktober im Berliner Maxim-Gorki- Theater eine Konferenz veranstalten zur Frage der „Marginalisierung des Theaters“. Die Zeit scheint dafür reif zu sein.

Ein Beispiel, wie leicht das Theater, das doch als Gedächtniskunst wie sonst keine gilt, seine ureigenen Stärken vergisst, mag viele überraschen. Aber es passt gerade zum heutigen Datum, und darüber hinaus.

Kein Tag hat die Welt zuletzt eingreifender verändert als der 11. September 2001. Nach den Anschlägen auf New York und Washington traf sich am 15. September in Camp David Präsident George W. Bushs innerster Zirkel, das sogenannte Kriegskabinett, und entschied dort bereits über die beiden Hauptziele des amerikanischen Terrorabwehrkampfs und der militärischen Vergeltung: über Afghanistan und den Irak. Man kann das mit Protokollen und durchweg autorisierten Zitaten nachlesen in Bob Woodwards Buch „Bush at War. Amerika im Krieg". Woodward war bekanntlich einer der beiden Reporter der Washington Post, die einst Watergate aufdeckten.

Auf Außenminister Powells Einwand, eine internationale Koalition gegen den Terror drohe bei einem Angriff auf den Irak zu zerfallen, antwortet Verteidigungsminister Donald Rumsfeld an jenem 15. September 2001 mit Vorschlägen für eine entsprechende Kontrolle und Lenkung der Informationen. Er sagt: „Wir müssen die Öffentlichkeitsarbeit straffer führen. Die Sache wie eine politische Kampagne aufziehen, jeden Tag Argumente unter die Leute bringen. Für einen langen Feldzug brauchen wir eine breite Basis der Unterstützung im Volk. Dies ist kein Spurt, sondern ein Marathon. Er wird nicht Monate dauern, sondern Jahre.“

Eben diese reale Szene existiert im Prinzip auch im europäischen Theater, sie wurde dort längst vorausgedacht. Also hätte man annehmen müssen, dass all die Bühnen, die nur zu gerne den Nerv der Zeit treffen möchten, das längst vorhandene Drama mit frisch geschärften Sinnen inszeniert hätten. Es ist das Stück, das von der Chronik eines angekündigten Krieges, von seiner umstrittenen Vorbereitung und auch der nötigen Demagogie und den politischen PR-Kampagnen handelt. Ausgangspunkt ist die Verletzung eines Landes durch einen ungewöhnlichen Angriff aus der Ferne. Das Drama erzählt, wie zur Vergeltung eine militärische Koalition geschmiedet und angesichts von Verzögerungen und Hindernissen das Volk bei Kriegslaune gehalten werden muss. Zumal sich der Gegner auf einem anderen Kontinent befindet und der Feldzug logistische Probleme aufwirft. Geht es doch um einen Krieg, der viele Jahre dauern wird.

Wir reden von keiner simplen szenischen Adaption dessen, was in allen Medien und allen Berichten, die wir etwa über den Mittleren Osten oder Afghanistan kennen, längst aktueller und schneller verbreitet werden kann. Das Stück ist vielmehr, wie alle große Kunst, eine hoch poetische Verdichtung des geschilderten Stoffs und zugleich die geisterhafte Antizipation des Kommenden: also ein Drama der Vergangenheit und zugleich ein Stück der Stunde, die immer wieder schlägt. Es wurde im Jahr 405 vor Christus in Athen uraufgeführt, Regie führte der Sohn des bereits im Jahr zuvor im mazedonischen Exil verstorbenen Dichters Euripides. Es wurde damals zusammen mit den „Bakchen“ gespielt, der letzten uns überlieferten griechischen Tragödie, die, wäre er nicht während der Proben gestorben, Jürgen Gosch für Salzburg soeben hätte inszenieren sollen. Das gemeinte Stück ist die „Iphigenie in Aulis“.

Das Schauspiel erzählt die Vorgeschichte von Iphigenies späterer Errettung und ihrem Exil bei den Skythen auf Tauris, über das Euripides gleichfalls ein Drama geschrieben hat. Heute kennen die meisten nur noch Goethes Version jener späteren „Iphigenie auf Tauris“ oder Glucks Oper, vielleicht auch Anselm Feuerbachs berühmtes Gemälde der sehnsuchtsvoll sinnierenden Emigrantin am fernen, barbarischen Ufer. Euripides, den der Berliner Kritiker Alfred Kerr 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, „unseren Zeitgenossen“ genannt hat, schildert das Heer der gesamtgriechischen Koalition, dessen zugehörige Flotte vor der Überfahrt zum Krieg gegen Troja (und zur Vergeltung der Entführung Helenas) im Hafen von Aulis festsitzt, weil der Feldherr Agamemnon unterwegs im Hain der Göttin Artemis übereifrig eine heilige Hirschkuh erlegt hat. Worauf die Göttin eine alle Schiffssegel lähmende Windstille verhängt, die nur durch die Opferung des Mädchens Iphigenie, die Tochter Agamemnons und Klytämnestras, beendet werden kann.

Es ist ein Drama, das neben den familiären Szenen im Hauptquartier der Generäle Agamemnon und Menelaos spielt. In deren Widerstreit mit dem wankelmütigen Volk, mit dem intriganten Koalitionär Odysseus, mit den Kriegsberichterstattern (in Gestalt des Chors), mit den unruhigen Truppen und der Familie Agamemnons entfaltet die 2400 Jahre alte Dichtung ein geradezu frappierendes Panorama der privaten und politischen Konflikte. Und der Psychologie der modernen Kriegsführung. Einst und jetzt.

Im Deutschen existiert „Iphigenie in Aulis“ in einer poetisch exzellenten Übertragung, sie entstand unmittelbar vor der Französischen Revolution – und der Übersetzer heißt: Friedrich Schiller. Dazu gibt es eine freiere Bearbeitung in Gerhart Hauptmanns „Atriden-Tetralogie“, entstanden im Zweiten Weltkrieg. In Frankreich hat 1991 Ariane Mnouchkine in ihrem Théâtre du Soleil die aulische „Iphigenie“ in der Urfassung des Euripides an den Beginn ihrer großartigen, „Les Atrides“ überschriebenen Reise in die Welt der antiken Tragödie gestellt. Diese weltweit bejubelte Inszenierung war auch dramaturgisch ingeniös, weil das Stück die Vorgeschichte der viel bekannteren, anschließend gezeigten „Orestie“ des Aischylos erzählt, deren letzter Akt gleichsam die Erfindung des Rechtsstaats bedeutet.

Spätestens seit dem ersten Golfkrieg 1991 wissen wir, dass ein Kriegsschauplatz in der angelsächsischen Sprache der Militärs theatre heißt. Außerdem versteht sich das Theater als die öffentliche Kunst der Erinnerung, als Teil unseres kulturellen Gedächtnisses. Umso mehr verwundert es, dass in den Zeiten eines neuen militärisch-politischen Ausnahmezustands das Überzeitstück der Stunde offenbar nicht gelesen und nicht gespielt wurde. Eyes wide shut.

Jetzt haben wir – statt Krieg – die Finanzkrise. Und diesmal will das Theater den Zug der Zeit offenbar nicht verpassen. Also kündigen jetzt ganz viele Bühnen Elfriede Jelineks in der vergangenen Saison schnell durchgeschriebene „Kontrakte des Kaufmanns“ an. Eine typische rollenlose, wesenlose Textmasse, die all das, was wir über die Finanzkrise schon gehört, gelesen, geahnt haben, nochmals dekonstruiert und sprachkabarettistisch paraphrasiert. Alles zutreffend. Aber wen trifft das wirklich? Vermutlich wäre es viel einfacher, spannender und zum Thema erhellender, wenn die Theater stattdessen auf ihrer großen Bühne nur Erwin Wagenhofers fabelhaften dokumentarischen Kinofilm „Let''s make Money“ vorführen würden.

Das freilich zeigt, dass das Theater im Wettlauf mit den aktuelleren, investigativen Medien allemal den Kürzeren zieht. Wenn es sich nicht mit längerem Atem auf seine eigenen Stärken besinnt. Im Zentrum des Schauspiels steht ja, trotz aller Verfremdungen und Dekonstruktionen, noch immer das von lebenden Akteuren verkörperte Drama. Die Stücke handeln von Menschen, von menschlichen Konflikten, und der Mensch ist nun mal eine alte Erfindung. Solange er biotechnisch noch nicht zum Androiden, zur Chimäre oder zum Cyborg mutiert ist, bleibt es bei seinen immer gleichen fünf Sinnen und bleiben die Autoren bei den durch alle Zeiten gleichen, bis heute unerschöpflichen Grundthemen: bei Liebe und Hass, Krieg und Frieden. Im Lachen wie im Weinen. Es geht weiterhin um Georg Büchners biblisch alte und topmoderne Frage, was das ist, was in uns lügt, hurt, mordet, stiehlt.

Auf diese Voraussetzungen aber lässt sich heute nicht mehr so selbstverständlich bauen. Denn im deutschsprachigen Theater hat sich seit einigen Jahren etwas fundamental geändert. Geändert auch gegenüber der einstigen Regierebellen-Generation eines Peter Zadek, Peter Stein oder anderer Protagonisten der 68er Jahre: Viele jüngere oder auch schon mittelalte Regisseure und Regisseurinnen setzen sich immer weniger mit den geschriebenen Texten reibungsvoll auseinander, sondern gleich freihändig über sie hinweg. Stücke sind – mit einem Wort Heiner Müllers – nur noch „Material“, das assoziativ verarbeitet, gemixt und gesampelt wird. Auch diese Dekonstruktion kann eine Komposition ergeben, ein szenisches Konstrukt - dessen Raffinesse oder Haltlosigkeit aber nur noch genaue Kenner der ursprünglichen Texte beurteilen können. Oft spricht das Theater dann eine vom Drama und seiner Geschichte weitgehend losgelöste, selbständige Sprache. Das birgt die Gefahr allerdings der schieren Selbstreferenzialität. Peter Handke nannte das einmal „Theatertheater“. Statt ein Spiel der Mächtigen zeigt es, politisch und poetisch tatsächlich marginal geworden, oft nur noch das Spiel der eitel Ohnmächtigen.

Die szenische Auseinandersetzung mit einem nicht gleich verworfenen oder ins völlig Heutige eingedünnten Text könnte jedoch noch politische Funken schlagen. Im Beispielsfall der „Iphigenie“ des Euripides passiert dies, wenn der Zuschauer in den zweieinhalbtausend Jahre alten Mythen und Metaphern plötzlich ihre geisterhafte Gegenwärtigkeit erkennt. Das kann ein Erkenntnisschock sein, der tiefer rührt als jede aktuelle Nachricht oder Meinung. Es berührt, als Erkenntnis, den Unterschied zwischen einer schieren Informations- und einer Wissensgesellschaft.

Dazu müsste man, im Theater die Spiele der Mächtigen zeigend, die Macht allerdings auch ernst nehmen. Ein Beispiel: In seiner Mailänder Inszenierung von Brechts „Leben des Galileo Galilei“ hatte Giorgio Strehler einst die berühmte morgendliche Einkleidung des Papstes versinnlicht, indem er die Papstrolle mit einem besonders spillrigen Darsteller besetzte. Während er sich mit dem Inquisitor unterhält und als naturwissenschaftskundiger Pontifex zunächst auf Seiten des angeklagten Physikers Galilei ist, wird dem Papst nun vom Unterrock bis zum prangenden Ornat Kleid um Kleid angelegt – bis sich der dürre, mitfühlende Mensch in eine lebende Monstranz, in ein Monstrum der Macht verwandelt hat - ein Kirchenfürst, der am Ende zustimmt, dass man Galilei bis zum Widerruf seines neuen Weltbildes die Instrumente der Inquisition zeigen möge. Die Szene wird so zum verkörperten Exempel, zum schlagenden Inbild.

Im deutschen Theater heute aber treten fast alle Herrscher, alle Mächtigen von vorneherein ihrer Macht oder Fremdheit entkleidet auf: schon äußerlich heruntergekommen, Agamemnon oder Klytämnestra trinken jenes Bier aus der Dose und rauchen Marlboro im Unterhemd. Othello ist der Schwarze aus der Nike-Werbung, Fürsten gleichen dem Bankangestellten von nebenan oder sind häufig genug nur das Gespenst aus der nächsten Theaterkantine. Das muss nicht so sein, und es hat auch nichts zu tun mit dem nun wieder gescholtenen Regietheater. Auch Strehler war wie alles gute Theater seit Max Reinhardt und Stanislawski Regietheater, weil es kein Theater gibt ohne Regie. Diesen Sommer ist der bedeutendste Regisseur des deutschsprachigen Welttheaters gestorben: Peter Zadek.

Zadek hat das Spiel der Mächtigen und der Ohnmächtigen zeitlebens inszeniert. Hat es nicht willkürlich in die Stücke hinein-, sondern Wort für Mord aus ihnen herausgelesen. Wenn sein (und Shakespeares) Shylock ebenso wie der christliche „Kaufmann von Venedig“ bereits vor zwanzig Jahren als Banker und Broker in Nadelstreifen auftrat, dann war das ein Stück über Geiz und Gier und die Allgewalt des Geldes.

Finanzkrise? Auch das, damit beginnt es ja. Bei Zadeks Shakespeare-Vergegenwärtigung lag der Rialto an der Wallstreet, aber nicht als äußere Aktualisierung, sondern als innere Beglaubigung einer alten Geschichte in der lebendigen Haut von Schauspielern, von Zeitgenossen: angestiftet von einem Regisseur, der kein „Diener des Autors“ ist (wie ihn sich Daniel Kehlmann wünscht, als gäbe es Diener und Herrn in der Kunst), sondern sein ergründender Interpret. Das zeigt dann: Unter Shakespeares Rialtobrücke fließt der Strom nicht des Vergessens oder des ewig Gestrigen. Es ist, jedes Mal neu, der Fluss der Erinnerung an das, was gestern schon heute morgen ist. Zukunft aus Herkunft. Eine Tragödie, aber auch komisch, gespenstisch modern, zynisch, menschlich. Das Ferne wird plötzlich nah, das Alte wieder neu. So ein Theater lebt weiter. Weil es trifft.

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