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Theaterfestival: Die Mauer wächst nach

„After the Fall“: Neues europäisches Theater zum Ost-West-Konflikt. Der 27-jährige Dramatiker Dirk Laucke, der seit seinem Debütstück „alter ford escort dunkelblau“ vor zwei Jahren mit einem bemerkenswert nahen, schonungslosen Blick auf harte soziale Realitäten beeindruckt, hat ein gewaltiges Problemknäuel zusammengeschnürt

Was tun mit dem Lkw voller illegal eingewanderter Vietnamesen, den sie zufällig an der sächsisch-tschechischen Grenze gefunden haben? Anna (Cathleen Baumann) und Jo (Thomas Eisen) haben ein Problem: Sind „diese Fidschis“, wie Anna die im Wagen Eingesperrten nennt, irgendwie brauchbar für die Geschäftsidee ihres Kumpels Heiner? Kann man den Lkw wenigstens auf dem weiträumigen Gelände abstellen, wo jener Heiner, ein ehemaliger Panzerkommandant der NVA, bald Erlebnisfahrten in einem historischen T55 anbietet?

Der 27-jährige Dramatiker Dirk Laucke, der seit seinem Debütstück „alter ford escort dunkelblau“ vor zwei Jahren mit einem bemerkenswert nahen, schonungslosen Blick auf harte soziale Realitäten beeindruckt, hat ein gewaltiges Problemknäuel zusammengeschnürt für seine Bestandsaufnahme der (ost-)deutschen Realität zwanzig Jahre nach dem Mauerfall. Der eine oder andere Handlungsstrang droht da zwischen Migration, Globalisierung, Fremdenfeindlichkeit, Entwurzelungsgefühlen, Nostalgie und west-östlichen Verstimmungen mitunter auszudünnen. Am Ende jedenfalls wird die „Westkuh“ Ela zur Strafe für ihre Gutmenschenallüren in den „Fidschi“-Container gesperrt, aus dem sie dann in unermüdlicher Selbstentlarvung herausruft: „Ich bin keine von denen!“

Laucke liegt mit all diesen Motiven durchaus im Trend des vom Goethe-Institut initiierten Festivals „After the Fall“. Dessen Kuratoren Claudia Amthor-Croft und Martin Berg haben den Blick im Jubiläumsjahr des Mauerfalls dankenswerterweise weit über Deutschland hinaus gerichtet: Mit siebzehn Theatern aus ganz Europa wurden Stückaufträge vereinbart, die die Auswirkungen des Systemwechsels vor zwanzig Jahren spiegeln.

Er sei froh, sagt Martin Berg, dass nicht nur Stücke entstanden sind, die eine retrospektive Wendeanalyse betreiben. „Die Wende war gut und wichtig. Aber sie ist zwanzig Jahre her; heute haben die Länder andere Probleme.“ Und genau solch ein theatrales Panorama verschiedener europäischer Realitäten hat das groß angelegte Projekt „After the Fall“ im Sinn – wobei sämtliche Arbeiten jedoch mindestens einen Befund teilen: „Die Grenzen, die 1989 verschwunden sind“, so Berg, „werden anderswo wieder aufgebaut.“

Alle siebzehn Inszenierungen wurden in ihren jeweiligen Herkunftsländern realisiert. Bei „After the Fall“, das noch bis zum Wochenende parallel in Dresden und Mülheim an der Ruhr stattfindet, ist nun eine Auswahl von acht Produktionen in Deutschland zu sehen. Eine erste Dresdner Zwischenbilanz erweist: Die europäische Dramatik hegt große Sympathien für den Typus des Gestrigen.

Der Ex-Panzerkommandant Heiner (Torsten Ranft) in Lauckes besagtem Beitrag „Für alle reicht es nicht“ vom Staatsschauspiel Dresden hat schlappe zwei Jahrzehnte gebraucht, um einigermaßen mit seiner Vergangenheit klarzukommen. Und jetzt legt er sie nicht etwa – was therapeutisch sinnvoll wäre – in irgendeiner Großhirnregion ab, sondern rettet sie unter neuen ideologischen und ökonomischen Vorzeichen in die Gegenwart. Die Tatsache, dass seine im Westen lebende Enkeltochter Chayenne (Melanie Lüninghöner) Heiners abenteuerliche Geschäftsidee mit dem NVA-Vergnügungspark „cool“ findet, spornt den melancholischen Militärfreak sichtlich an in Sandra Strunz’ solider Inszenierung.

Auch der alte Grenzbeamte in Andrej Stasiuks polnischem Beitrag „Warten auf den Türken“ vom Stary Teatr Krakau findet sich jeden Morgen unbeirrt an jenem Schlagbaum ein, mit dem er zu realsozialistischen Zeiten den Verkehr an der polnisch-slowakischen Grenze bewacht hatte. „Ich wollte wissen“, sagte Stasiuk in einem Vortrag vor dem Gastspiel, „was so ein Mensch in ausgelatschten Schuhen und mit amputierter Vergangenheit zur Gegenwart sagen würde.“ Doch die zunächst interessante Perspektive versackt im Stück, wiewohl vom Stary-Ensemble toll gespielt, in allzu bekannten, allzu liebenswerten Loser-Figuren. Mit dem Grenzbeamten verweigern sich auch ehemalige Schmuggler und eine Kioskbetreiberin den Plänen eines türkischen Investors, die Grenzregion zum Erlebnispark mit Gruselappeal umzustylen. Allein die Kioskdame wird gelegentlich von der verräterischen Fantasie heimgesucht, mit dem Türken oder aber seinem Angestellten nach London auszuwandern: postsozialistische Reißbrettträume, die schwer nach „Ich war noch niemals in New York“ klingen und bei denen man sich fragt, ob die tatsächlich je so geträumt werden?

Origineller ist das westliche Pendant, das virulente Motiv vom Investorentraum „Erlebnispark“. Osteuropäische Vergangenheit oder sogar harte Flüchtlingsgegenwart wie in Christian Lollikes Beitrag „Die Geschichte der Zukunft“ vom Det Kongeligen Teater Dänemark mutieren zu Horror-Freilichtmuseen für Neugierige mit einem Nachholbedarf in Sachen Diktatur. Historie als Disneyland: Im günstigsten Fall macht der gewendete Ossi – siehe Lauckes Panzerkommandant – die eigene Geschichte wenigstens selbst zu Geld. In der Regel aber sind es diejenigen, die im Theater bemerkenswerterweise auch zwanzig Jahre nach dem Mauerfall stets in cleanen weißen Anzügen auftauchen. Über das Motiv der fröhlichen Geschichtsentsorgung lohnt es durchaus nachzudenken.

Der pessimistischste Befund kam von Nicoleta Esinencu aus der Republik Moldau. Die junge Regisseurin lässt ihre Schauspieler über Gaslieferungen, Vergiftungen sowie realsozialistische Militär- und postsozialistische Polizeipropaganda referieren. In historischen Sprüngen von kindlichen Wehrpflichtübungen in der Sowjetunion bis zur brutalen Stürmung des von tschetschenischen Geiselnehmern besetzten Moskauer Musicaltheaters 2002 siganilsiert „Gegenmittel“: Strukturell hat sich nicht das Geringste verändert.

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