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Theaterprojekt in Berlin: "Wer seine Grenzen durchbricht, strahlt auf der Bühne"

Uta Plate lässt Jugendliche aus betreuten Wohngemeinschaften an der Berliner Schaubühne auftreten. Für sie stehen Kunst und Soziales nicht im Widerspruch.

Uta Plate ist Theaterpädagogin an der Berliner Schaubühne. Am Samstag hat dort das Stück "Meine Lieder singe ich" Premiere. Auf der Bühne stehen keine professionellen Schauspieler, sondern Jugendliche, die in betreuten Wohnprojekten leben. Die Gruppe nennt sich die "Zwiefachen" und ihre Mitglieder tragen "mehr Ballast mit sich herum" als andere, sagt Plate. 

Tagesspiegel:

Wie sind Sie in Kontakt gekommen mit den Jugendlichen, die jetzt in ihrem Projekt mitspielen?

Uta Plate: Mir ist wichtig, an "theaterferne" Jugendliche heranzukommen, die die Bühne nicht als Sprungbrett für die eine große Karriere sehen. Vor zehn Jahren, als ich mit Thomas Ostermeier und Sasha Waltz an die Schaubühne gekommen bin, haben wir betreute Wohngruppen angesprochen. Inzwischen lade ich zwar die Gruppen noch zu Generalproben und Premieren ein. Durch die kontinuierliche Arbeit rufen mich aber inzwischen auch die Sozialarbeiter an und erzählen mir beispielsweise von einem Mädchen, das sehr schüchtern, aber ausdrucksstark ist, und der die Arbeit gut tun würde.

Tagesspiegel: Wählen Sie Ihre Darsteller nach Talent aus?

Plate: An Talent glaube ich nicht. Ich nehme alle, die kommen und die Unterstützung brauchen. Diese Casting-Geschichten finde ich schrecklich. Auf diese Weise kann man nur die vordergründige Präsenz beurteilen. Viel interessanter ist es, mit Menschen zu arbeiten, die zunächst blockiert und nicht entspannt wirken. Denn wenn sie es schaffen, sich zu befreien, dann entwickelt das eine ungeheure Kraft. Die anderen strengen sich oft nicht mehr an, bleiben bei den Dingen, in denen sie sowieso stark sind. Aber wer Grenzen durchbricht, beginnt auf der Bühne zu strahlen.

Tagesspiegel: Wenn die Jugendlichen dabei über ihre persönlichen Grenzen gehen müssen, wo liegt der Schwerpunkt ihrer Arbeit? Auf der Kunst oder der Therapie?

Plate: Meiner Erfahrung nach ist das kein Widerspruch. Die soziale und ästhetische Dimension gehören zusammen. Wenn eine Gruppe sich Vertrauen geben kann, wenn jemand durch diesen Rückhalt einen Weg gehen kann, den er sich sonst nicht zugetraut hätte, ist das auch ein ästhetischer Gewinn. Während des Tanzes zum Beispiel werden bei uns keine einheitlichen Tanzschritte eingeübt. Jeder entwickelt sein Bewegungsvokabular und tanzt frei. Diese eigene Sprache ist ein ästhetischer Genuss für das Publikum und stärkt gleichzeitig die Persönlichkeit des Tänzers.

Tagesspiegel: Das hört sich nach harter Arbeit an.

Plate: Am Ende sieht es zwar leicht und locker aus. Aber die Proben dauern etwa ein Jahr. Und wir proben am Ende jeden Abend und die Wochenenden durch. Ich verlange hundertprozentige Hingabe.

Wir arbeiten daran, jeden zum Wachsen zu bringen und seine Stärken zu betonen. Natürlich ist der Weg auch das Ziel. Aber der letzte Schritt ist der Entscheidende: dem Publikum eine gute Aufführung zu bieten. Wenn man gemeinsam auf der Bühne steht, muss jeder einzelne für alles sensibel und offen sein. Er muss sowohl die anderen unterstützen, aber sich auch selbst trauen, alleine nach vorne zu treten und sich von den anderen unterstützen lassen. Theater ist die sozialste aller Kunstformen. Aber es ist auch harte Arbeit.

Tagesspiegel: Wie hat sich das aktuelle Stück entwickelt?

Plate: Wir wollten von Anfang an viel mit Gesang arbeiten. Es ist kein Musical geworden, eher ein Flickwerk voller Popsongs. Ich habe zum Beispiel auf den Proben eine bestimmte Handymelodie gehört und den Besitzer gebeten: "Erzähl uns mal etwas über das Lied." Wir stellten uns noch mehr Fragen: Wie ist es, wenn die Worte fehlen und man stattdessen ein Lied singt? Welches Lied mochte ich früher, das mir aber heute peinlich ist? Jeder brachte seinen Lieblingssong und damit seine Geschichten mit. Daraus entstanden Episoden um persönliche Krisen in der WG, um Nähe und Entfernung. Jeder Schauspieler hat seinen eigenen tapezierten Karton.

Tagesspiegel: Was wird nach dem Projekt passieren? Was bringt das Theaterspielen den Jugendlichen?

Plate: Immer wird mir diese Frage gestellt: Werden die Menschen durchs Theater besser? Ich will aber über die Menschen kein Urteil abgeben. Sie können nur für sich selbst darüber sprechen. Ich kann jedoch über mich sagen: Ich empfinde diese Arbeit als Geschenk, weil ich zusehen darf, wie die Jugendlichen sich nach und nach öffnen. Wie sie allmählich zu dem kommen, was sie eigentlich wollen. Das wird allerdings auch begleitet von schweren Einbrüchen. Weil sie schon in sehr jungen Jahre Dinge erlebt haben, die sich eingegraben haben. Es ist ein langer Prozess.

Aber man darf es sich auch nicht einfach machen und denken: Die Jugendlichen lernen bei so einem Projekt Disziplin und werden zu aufrechten Bürgern. Das ist mir zu unpolitisch. Wenn der Arbeitsmarkt keine Ausbildungsplätze anbietet, dann ist das eine Tatsache, die ich nicht mit Theaterprojekten ändern kann.

Die Fragen stellte Parvin Sadigh

ZEIT ONLINE

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