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Wuppertal: Schmerz, lass los!

Vom Chile unter Pinochet zum Spiel mit Geschlechterrollen: Pina Bausch zeigt ihr – namenloses – neues Stück in Wuppertal.

Von Sandra Luzina

Ganz harmlos hebt das an, Pina Bauschs neues Stück, und nimmt den Zuschauer doch gleich in den Würgegriff. Die mädchenhaft-zarte Silvia Farias Heredia in weißem Kleid kniet sich auf alle viere, verharrt regungslos in der Hündchenposition. Als zwei Männer in schwarzen Anzügen herbeieilen, um sie an Schultern und Hüften hochzuheben und fortzubewegen, schreit sie durchdringend. Als sie verstummt, geht das Martyrium weiter. Eine Gruppe von Männern wirft sich die schreckensstarre Frau zu wie eine Puppe zu. Oder treibt die an einen Stock Gefesselte über die Bühne wie ein gefangenes Tier. Verzweifelt flüchtet Heredia sich in die Arme ihres Geliebten, klammert sich fest, doch das Paar wird brutal auseinandergerissen, immer und immer wieder.

Pina Bausch bringt einmal im Jahr – darauf ist Verlass – in Wuppertal einen neues Stück heraus, das bei der Premiere noch keinen Titel hat. Mit ihrem Wuppertaler Tanztheater, immer noch die deutsche Topmarke, bereist die mittlerweile 68-Jährige die Welt. In ihrer neuen Produktion, die auf einen dreiwöchigen Aufenthalt in Chile zurückgeht, rührt diese wichtigste deutsche Kulturbotschafterin nun an das Trauma des südamerikanischen Landes, in Szenen, die abstrakt und doch leicht entschlüsselbar sind. Zudem erklingen Lieder von Violeta Parra und Victor Jara, Ikonen der Nueva Canción Chilena. Jara wurde 1973 nach dem Putsch Pinochets gegen Allende verhaftet, gefoltert und ermordet. Der Name Victor wird leise aufgerufen in der dunkelsten Szene, als der Opfer der Militärdiktatur gedacht wird. Dominique Merci und die anderen Männer des Ensembles legen sich in einer Reihe zu Boden, jeder zieht sich eine raue Decke erst über den Körper, dann über den Kopf. Sie scheint endlos zu sein, die Kette der Toten.

Peter Pabst hat ein überaus schlichtes Bühnenbild entworfen. Bauschs Tänzer bewegen sich immer auf unsicherem Grund; diesmal erinnert der weiße Boden an eine Eisschicht, die bedrohliche Risse bekommt. Nur einmal kurz ist als Projektion das Wasser eines reißenden Flusses zu sehen – Hintergrund für ein schmerzlich-schönes Solo von Rainer Behr.

Verstörend ist es da schon, wenn Pina Bausch sich nach dem beklemmenden Auftakt mit sanfter Ironie auf das Geschlechterthema konzentriert, wobei sie einige ihrer bekannten Motive variiert. Die Musik wechselt flott von nostalgischem Mambo zu Jazz und Electro, bis wieder einer dieser wehmütigen lateinamerikanischen Gesänge ans Herz geht. Wenn die betörenden Bausch-Frauen erstmals alle versammelt sind, sinken sie in eine tiefe Rückbeuge – bis mit lautem Gepolter Steine aus ihren Händen zu Boden fallen. Schmerz kann man loslassen, und so wirft das Stück nun emotionales Gewicht ab. In den flatternden, halb durchsichtigen Roben von Marion Cito defilieren die Schönheiten über die Bühne, um sich Schmeicheleien bei Fernando Suels Mendoza abzuholen. Verführerisch sinnlich, mokieren sie sich über weibliche Tricks und Eitelkeiten.

Die Soli dominieren auch diesmal, variantenreich oszillieren sie zwischen Sehnsucht und Trauer, Hingabe und Aufruhr. Erotisch werfen die Tänzerinnen ihre prachtvollen Mähnen durch die Luft, und zu Klageweibern mutieren sie, wenn sie die Gesichter in den Haaren vergraben. Doch das Kräfteverhältnis hat sich gedreht. Die Männer im Ensemble sind fantastisch. Wenn Eddie Martinez inmitten von neun Frauen tanzt, die ihn sanft leiten und behüten, ist das so furios wie wunderschön. Liebe und Zärtlichkeit sind flüchtig, aber greifbar: Da zeigt sich Pina Bausch versöhnlicher als früher.

Zum Finale laufen die Tänzer ausgelassen kreischend über die Bühne, bis Silvia Farias Heredia niederkniet, und plötzlich ist das Gedächtnis für den Schmerz wieder da. Wie immer irritiert das absichtsvolle Nebeneinander von Heiterkeit und Melancholie, doch nur selten rutscht das unverschämt Leichte ins Seichte. Und die aufwühlenden Szenen der Verfolgung, sie hallen noch lange nach.

Immerhin, das Berliner Publikum muss nicht auf Wim Wenders’ 3-D-Film mit Pina Bausch warten. Im Dezember gastiert sie mit „Die Sieben Todsünden“ von 1976 bei der Spielzeit Europa.

Bis zum 21. Juni, Opernhaus Wuppertal. Details unter www.pina-bausch.de

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