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Mach es nie ohne. Die kleinen Mikros dürfen auch im Bett nicht fehlen, wie hier in „Draußen vor der Tür“ an der Schaubühne.

© IMAGO

Bühnentrend: Terror der Intimität

Immer mehr Sprechtheater setzen auf verstärkte Stimmen durch Mikroports. Sie verändern die Wahrnehmung des Spiels – mit absurden Folgen.

Aus der Schwärze schälen sich zwei Gesichter heraus, ein Mann und eine Frau. „Lass uns zu ihm gehen, nach dort“, flüstert der Mann in sich hinein, immer wieder, und schlurft in Endlosschleifen um die Bühne. Am Deutschen Theater Berlin hat Andreas Kriegenburg „Aus der Zeit fallen“ inszeniert. Der israelische Schriftsteller David Grossman schrieb den Text nach dem Tod seines Sohnes im Libanonkrieg 2006. Ein berührender Abend, frei von Peinlichkeit, unverkrampft. Und doch irritiert etwas: Sämtlichen Darstellern sind Mikroports ins Gesicht geklebt. Kleine, fleischfarbene Mikrofone.

Der Effekt ist eigentümlich. Kriegenburgs Inszenierung lebt von der Tiefe des Raums, von Kreisbewegungen, von Rückungen nach vorne und hinten. Die Stimmen vermitteln davon aber nichts. Alle kommen mit gleicher Dynamik aus dem gleichen Lautsprecher, unterschiedslos, nivellierend. Ein Theater, das freiwillig auf eine entscheidende Dimension verzichtet, sich flach macht, verflacht. Übrigens haben auch die Bühnenarbeiter alle Technik auf dem Kopf, tragen Headsets, Mikrofone, Kopfhörer. Es sieht aus wie in einem Call Center. Oder bei der Security.

Natürlich, die Debatte um Mikroports ist nicht neu. Ende der 70er Jahre kamen die ersten klobigen Dinger auf, in den 90er Jahren wurden sie schlanker, einsatzfähiger. Im Musical fing es an, dort wurden Mikroports früh Standard. Seit einigen Jahren greifen auch immer mehr Sprechtheater zur technischen Stimmverstärkung, auch in kleinen Räumen.

Die Kritik daran lässt sich auf diesen Nenner bringen: Das freie, natürliche, klassische Bühnensprechen verarmt. Schwächlinge und Dilettanten schaffen es nicht mehr, mit ihrer Stimme den Saal zu füllen und brauchen technische Krücken. Tatsächlich lässt sich der Gedanke, dass Regisseure an den Stimmstützen Gefallen finden und sich zunehmend darauf verlassen, nicht ganz von der Hand weisen. Für Befürworter sind die Gesichtsspangen hingegen nichts anderes als ein weiteres Instrument zur Produktion von Kunst. Sie sagen: Schon im antiken Epidauros, setzten die Griechen Stimmverstärker ein, Masken und Kothurne. Mit Mikroport lässt sich auf der Bühne viel intimer sprechen. Auch Kriegenburgs Inszenierung am Deutschen Theater verteidigt Chefdramaturgin Sonja Anders mit diesem Gedanken: Der Regisseur wollte extreme Nähe und Intimität für das Stück, das kein klassisches Dialogdrama, sondern ein großes Oratorium sei.

Weitere Argumente lauten: Dank Mikroports müssen Darsteller endlich nicht mehr unnatürlich zum Publikum hin sprechen, um verstanden zu werden. Stimme und Körper entkoppeln sich, das schafft zusätzliches Spielmaterial. Und durch die bewusste Verfremdung von Stimmen entstehe eine zusätzliche künstlerische Ebene, die im postdramatischen Theater hochwillkommen ist.

Verfremdung? Wenn es so wäre. Meist ist eher das Gegenteil der Fall: Die Stimmen werden eingeebnet. Alles klingt gleich. Und Mikroports sind nicht nur ein akustisches, sondern vor allem ein visuelles Problem. Als nicht ignorierbares Zeichen, als Fremdkörper, gegen den der Darsteller permament anspielen muss, zerstören sie die theatrale Illusion – ohne eine neue zu schaffen. Vielmehr deuten sie übereifrig wie ein Finger auf den Akteur: „Seht her, der spielt das alles nur!“ Die Verschämtheit, mit der sie immer kleiner werden und doch stets sofort zu erkennen sind, macht die Sache eigentlich nur schlimmer.

Natürlich spielt der Raum eine Rolle. Es gibt Orte, die allein mit der Kraft der menschlichen Stimme nicht mehr zu füllen wären. Das Depot 1 etwa, die Ausweichspielstätte des Kölner Schauspiels. Oder die großen Industriehallen in Duisburg und Gelsenkirchen, die die Ruhrtriennale bespielt. Das Deutsche Theater in Berlin aber ist klein – und setzt trotzdem auf die Mikroportisierung.

Die Frage ist, ob immer reflektiert wird, wann die Technik wirklich nötig ist und wann nicht. Tobias Veit, stellvertretender Direktor der Schaubühne, versichert: „Wir entscheiden bei jeder Produktion individuell.“ Anders als in den Niederlanden offenbar. Dort habe er keine Inszenierung mehr ohne Mikroports gesehen, erzählt Veit. An der Schaubühne werden sie zur Zeit in „Ein Menschenfeind“, „Edward“, „For the disconnected child“, „Hyperion“, „Die gelbe Tapete“ und „Fräulein Julie“ eingesetzt. Vor allem in den letzten beiden Produktionen – Regie: Katie Mitchell – lassen sich Mikroports kaum vermeiden. Die Regisseurin zeigt das Geschehen parallel als Film. Dafür muss man Stimmen aufzeichnen.

Überhaupt Film: Ein Grund für die stimmtechnische Aufrüstung der Bühnen dürfte der bewusste oder unbewusste Wunsch sein, das Theater der Ästhetik des Kinos anzugleichen. Näher an den Figuren dran zu sein. Das kann aber den gegenteiligen Effekt haben, denn technische Stimmverstärkung entrückt die Figuren mindestens in dem Maße, in dem sie sie heranzoomt. Ein weiteres Stichwort liefert Sonja Anders: „Sie brauchen natürlich Mikroports, sobald der zeitgemäße Pop umgeht.“ Die Hörer sind dabei unempfindlicher, unkritischer geworden. Der Anspruch an Soundqualität ist geschrumpft, seit Musik fast nur noch auf Smartphones und Laptops gehört wird, nicht mehr auf HiFi-Anlagen. Was zählt, ist Lautstärke. Vielleicht haben deswegen viele Theaterbesucher kein Problem mit Mikroports.

Mikroports sollen mehr Freiheit bringen – und führen zu neuen Einschränkungen

Mach es nie ohne. Die kleinen Mikros dürfen auch im Bett nicht fehlen, wie hier in „Draußen vor der Tür“ an der Schaubühne.
Mach es nie ohne. Die kleinen Mikros dürfen auch im Bett nicht fehlen, wie hier in „Draußen vor der Tür“ an der Schaubühne.

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Das Musical entstand fast zeitgleich mit dem Pop. Kein Zufall, dass Mikroports hier schon lange selbstverständlich sind. Ja, es mag eine Zeit gegeben haben – in den 50er Jahren, als Bernstein mit der „West Side Story“ das erste Musical schrieb – in der Darsteller tatsächlich ohne Verstärkung gesungen haben. Heute sind Musicals ohne Verkabelung nicht denkbar, auch in der aktuellen „West Side Story“ an der Komischen Oper nicht. Das Publikum hat sich an den Anblick der kleinen Spangen gewöhnt, die Frage nach Alternativen wird nicht gestellt. Obwohl die Darsteller ja nicht ständig singen. Schweigt die Musik, sprechen sie auch – und haben trotzdem Mikroports umgeschnallt. Das ist so, als würde man den ganzen Tag einen Schirm mitschleppen, obwohl es nur manchmal regnet. Man sieht vielen Darstellern an, dass sie sich unwohl fühlen mit der ganzen Elektronik am Körper. Ein klassischer Fall von Fortschritt, der zugleich Rückschritt ist: Mikroports sollen mehr Freiheit bringen – und führen zu neuen Einschränkungen.

Absurde Szenen sind da möglich, wie im Musical „Motown“ im Theater am Kurfürstendamm. Alle Darsteller sind verkabelt, singen aber trotzdem in Stehmikrofone. Attrappen, von denen kein Kabel wegführt. Auch die „StradivariaS“ im Tipi am Kanzleramt haben trotz Mikroports noch Mikros in der Hand. Hier offenbart sich etwas anderes: Eine Sehnsucht nach Stil. Mikrofone hatten Eleganz, sie waren Teil der Show, quasi ein eigener Charakter, Widerpart und Gesprächspartner zugleich. Mikroports sind das nicht mehr, sie wandern mit wie ein Schatten, wie die Gehilfen des Landvermessers bei Kafka. Viele Darsteller wissen mit der neugewonnen Freiheit wenig anzufangen. Die Arme, die früher ein Mikrofon hielten, baumeln jetzt unentschlossen an der Seite.

Als Bollwerk gegen Mikroports erscheinen – noch – klassische Symphoniekonzerte und Opernhäuser. Wohl nirgendwo zählt die reine, unverfälschte Stimme noch so viel wie hier. „Mikroports sind in der Oper absolut tabu“, sagt Christoph Seuferle. Als Operndirektor an der Deutschen Oper Berlin gehört es zu seinem Job, ständig neue Stimmen zu hören. „Als im 19. Jahrhundert die Orchester immer größer wurden, waren auch die Sänger gezwungen, sich hochzutrainieren“, erklärt er. Jemand, der Monteverdi sang, hätte 300 Jahre später niemals Strauss singen können. Schafft es ein Sänger nicht, übers Orchester zu kommen, wird der Dirigent bemüht sein, herunterzudimmen. Denn er, und nicht der Tonmeister, hält die Fäden in der Hand. Christoph Seuferle hat den Eindruck: „Alle Opernhäuser weltweit verfahren so.“

Und trotzdem hält auch in der Klassik der erste Eindruck nicht, was er verspricht. Auch hier wird verstärkt. Wenn jemand hinter der Bühne singt, zum Beispiel. Oder bei großen Bällen wie der Aids-Gala an der Deutschen Oper oder dem Semperoper-Ball in Dresden. Oper geht in der Regel ohne jede Verstärkung über die Bühne. Trotzdem ist in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift „Opernwelt“ der Sänger Pascal Rénéric zu sehen, der in Paris für Schumanns „Manfred“ auf der Bühne steht – mit Mikroport.

Produktionen werden häufig im Rundfunk übertragen oder für CD mitgeschnitten. In der Philharmonie hängen dazu Mikrofone von der Decke. „Aber bei der Matthäus-Passion der Philharmoniker mit Simon Rattle im Oktober haben sich die Sänger frei bewegt – und trugen Mikroports", erzählt Rainer Barthel. Er ist Account Manager für professionelle Systeme bei der Firma Sennheiser. Auch an der Deutschen Oper würden Sänger zu Aufzeichnungszwecken in gut zehn Prozent aller Aufführungen kleine Mikrofone im Kostüm tragen. Die sind nur sehr gut versteckt. Und die Aufzeichnung wird nicht in den Saal rückübertragen. Das heißt, das Publikum hört den Gesang zu 100 Prozent aus dem Mund des Sängers selbst, ohne Beimischung von Lautsprechern. Das wird wohl auch noch eine Weile so bleiben. Genau so lange, bis ein Regisseur auf den Gedanken kommt, mehr Intimität zwischen Sänger und Publikum herstellen zu wollen.

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