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Kultur: Bürger oder Bettelmann

Was schulden die Reichen den Armen? Schulden sie ihnen überhaupt etwas? Eine soziale Gewissenserforschung

Heute geht es in unserer Serie zu den Grundsatzfragen des Wahlkampfs um Gerechtigkeit. Bisher erschienen: Bildung (Peter von Becker, 7.8.) Sicherheit (Michael Rutschky, 12.8.), Umwelt (20.8.) Als Nächstes: Matthias Greffrath über Arbeit.

Bill Gates ist reich. Die Aldi-Brüder sind reich. Diesen Reichtum betrachten viele mit Neid – aber empfindet man ihn auch als ungerecht? Die Ideologie des Kapitalismus behauptet: Leistung wird belohnt. Deswegen schlagen die Wellen der Empörung und die Wellen der Gerechtigkeitsdebatte immer dann besonders hoch, wenn gescheiterte Aufsichtsratsvorsitzende mit üppigen Abfindungen nach Hause gehen, wenn Minderleistung belohnt wird. Das heißt, wenn der Kapitalismus sein eigenes Gerechtigkeitsversprechen nicht einlöst. Der unfähige Boss mit Millionenabfindung ist das Pendant zu den Privilegiertenvierteln der DDR, zu Wandlitz – der Beweis dafür, dass wir in einem System leben, das über sich selbst nicht die ganze Wahrheit sagt.

Die Natur ist nicht sozial gerecht. Auch das Leben im Allgemeinen kann nicht gerecht sein. Glück und Pech wird es immer geben. Nicht einmal Staaten oder Systeme können gerecht sein, wie viel Mühe man sich mit der Gerechtigkeit auch geben mag. Weil Gerechtigkeit nichts ist, was in der Natur angelegt wäre und sich von selber versteht, muss es irgendjemanden geben, der den Begriff Gerechtigkeit definiert, der entscheidet, was im Einzelnen gerecht ist und wie viel Gerechtigkeit man sich leistet. Den Herrn über die Gerechtigkeit sozusagen. Das kann logischerweise nur eine mächtige gesellschaftliche Kraft sein. Eine Partei vielleicht. Oder die herrschenden Kreise.

Die Gerechtigkeit soll den Ohnmächtigen zugute kommen, aber was Gerechtigkeit ist, bestimmen immer die Mächtigen: So etwas nennt man wohl einen Widerspruch.

Jetzt, im Wahlkampf, wetteifern zwei Gerechtigkeitsmodelle miteinander, beide Modelle haben in fast jeder Partei ihre Anhänger. Es sind das neoliberale und das sozialdemokratische Modell – letzteres wird nicht nur von Teilen der SPD und der PDS vertreten, sondern auch von Teilen der CDU und der Grünen. Beide Ideen von Gerechtigkeit schaffen selber neue Ungerechtigkeiten: Widerspruch Nummer zwei.

Beim sozialdemokratischen Modell verteilt der Staat um, er korrigiert und mildert den Kapitalismus. Unter dem Begriff „soziale Gerechtigkeit“ wird also die Umverteilung von reich zu unreich verstanden. Die Reichen sollen geben, die weniger Reichen sollen bekommen. Das ist notwendigerweise ebenfalls ungerecht. Es gibt einerseits Arme, die in ihrem Leben Pech hatten. Andererseits gibt es Arme, die sich ihre Armut selber zuzuschreiben haben. Bei den Reichen ist es natürlich genauso. Der eine Unternehmer hat ein soziales Gewissen und schafft nach Kräften Arbeitsplätze, der andere nicht.

Kein Verteilungssystem kann so fein austariert sein, dass es die Unterschiede zwischen faulen und fleißigen, guten und bösen Menschen bis ins Letzte misst und berücksichtigt. Wer versucht, ein perfekt gerechtes System zu entwerfen, kann nur ein bürokratisches, totalitäres Monster hervorbringen. Wer also die Frage der Gerechtigkeit mit moralischen Fragen vermischt, zum Beispiel der Frage, ob diese oder jene Person zu Recht arm oder zu Recht reich ist, kommt ebenfalls schnell in sumpfiges Gelände.

Gerechtigkeit ist eben etwas, nach dem fast alle streben, aber was man nie ganz bekommt – einer dieser typisch menschlichen Träume, wie der ewige Frieden, die Liebe, die Freiheit. Das Problem besteht darin, dass man diese großen Ideen ununterbrochen gegeneinander abwägen muss, sie kommen sich leider in die Quere. Vollkommene Freiheit, vollkommene Gleichheit und vollkommene Gerechtigkeit gibt es nicht gleichzeitig.

Das andere Gerechtigkeitsmodell, das zurzeit propagiert wird, möchte den Kapitalismus nicht bremsen, sondern entfesseln. Die neoliberale Grundthese heißt: Ein – nicht ganz, aber weitgehend – entfesselter Kapitalismus schafft so viel Reichtum, dass davon letztlich auch die Verlierer profitieren. So lautet das Versprechen der Neoliberalen, die in FDP und CDU am stärksten vertreten sind.

Bezugspunkt beider Gerechtigkeitsmodelle ist der Verlierer, der Minderleister, der es – aus welchem Grund auch immer – nicht geschafft hat, rechtzeitig Aufsichtsratsvorsitzender zu werden. Leistung sollte belohnt werden, Nichtleistung darf nicht den Sturz ins Bodenlose zur Folge haben: Auf diesen Minimalkonsens können sich „Sozialdemokraten“ und Neoliberale immer noch einigen, in Deutschland jedenfalls.

Ich stelle mir zwei Kinder vor, einen Arztsohn und ein Mädchen aus der Arbeiterklasse. Beide sind begabt.

Vielleicht sollte man erwähnen, dass es nicht nur mehrere Modelle, sondern auch mehrere Spielarten der Gerechtigkeit gibt, darunter diese beiden: Verteilungsgerechtigkeit und Chancengerechtigkeit. Die Idee der Chancengerechtigkeit besagt, dass jedes Kind die gleichen Möglichkeiten zu Bildung und Aufstieg bekommt, egal, in welche Verhältnisse es geboren wurde.

Die beiden Kinder haben Glück, sie kommen auf eine gute Schule. Sie bekommen Chancengleichheit. Das Mädchen ist ehrgeizig. Es ist tüchtig. Es steigt auf. Der Junge dagegen – aus Gründen der politischen Korrektheit muss es der Junge sein! – ist ein faules Aas. Nach etwa dreißig Jahren ist aus dem Mädchen eine Top-Architektin mit acht Angestellten geworden, während ihr ehemaliger Klassenkamerad sich, nachdem er das elterliche Erbe verbraten hat, mit staatlicher Unterstützung über Wasser hält (nebenbei arbeitet er natürlich ein bisschen schwarz, er ist und bleibt ein Aas).

Mit diesem Beispiel möchte ich selbstverständlich nicht unterstellen, dass alle, die Unterstützung empfangen, faul oder selber schuld sind. Genauso wenig, wie alle Wohlhabenden fleißig und tüchtig sind. Aber es gibt eben solche Fälle, sie sind gar nicht so selten. In diesen Fällen ist der Wohlstand oder der gesellschaftliche Rang, den eine Person besitzt, einfach das Ergebnis von erfolgreich praktizierter Chancengleichheit, oder von persönlicher Tüchtigkeit beziehungsweise Untüchtigkeit.

Nun entfaltet die Idee der Verteilungsgerechtigkeit ihre Wirkung. Der Staat bemüht sich, Geld umzuleiten, von der Architektin (und Arbeitertochter) zu dem Unterstützungsempfänger (und Arztsohn), auf die bekannte Weise, mit Hilfe von Steuern und Abgaben. Das Ergebnis ist nicht dramatisch, es klafft immer noch eine Einkommenslücke zwischen den beiden. Trotzdem ist schwer zu bestreiten, dass in diesem Fall die Verteilungsgerechtigkeit das Ergebnis der Chancengerechtigkeit tendenziell korrigiert. Die verschiedenen Gerechtigkeiten arbeiten manchmal gegeneinander: Widerspruch Nummer drei.

Was ist gerecht? Das ist eben schwer zu sagen. Eine andere Frage ist leichter zu beantworten: Auf was hat der Mensch ein Recht? Wie muss das Leben derjenigen ausgestattet sein, die keinen Erfolg haben, die scheitern, weil sie nicht können oder weil sie keine Lust haben? Wie viel Wohnung, wie viel Komfort, wie viel Geld? Das Schöne an dieser Frage: Sie schnüffelt den Leuten, ihren Motiven, ihrer Tüchtigkeit und ihren charakterlichen Qualitäten nicht hinterher, sie hat auch weniger mit Ideologie zu tun als mit Menschlichkeit. Man sollte den Mindeststandard für ein menschenwürdiges Leben in diesem Land definieren und im Übrigen den Ungerechtigkeiten und Wechselfällen des Lebens ihren Lauf lassen. Gerechtigkeit gibt es nicht.

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