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Jean-Pierre und Luc Dardenne mit Joely Mbundu (rechts) und Pablo Schils, den Hauptdarstellern ihres Films „Tori e Lokita”.

© IMAGO/Independent Photo Agency Int.

Cannes Tagebuch (8): Filmkultur im Feindesland

Die Stadt Cannes ist eine Bastion im äußerst Le-Pen-freundlichen Süden des Landes. Dagegen muss sich an der Croisette auch das französische Kino positionieren.

Von Andreas Busche

Frankreich ist bei der Präsidentschaftswahl vor gut einem Monat gerade noch mal einer mittleren Katastrophe entgangen. Aber die erschütternd niedrige Wahlbeteiligung ­– man spricht hierzulande bei den Nicht-Wählern inzwischen von der zweitstärksten politischen Fraktion – gibt keinen Anlass zur Entwarnung. Der Süden Frankreichs entlang der Côte d’Azur gilt als eine der Hochburgen von Marine Le Pen und ihrer Partei Rassemblement National (vormals Front National), was in Städten wie Avignon und Cannes, die sowohl vom Tourismus als auch von ihrem vielseitigen Kulturleben profitieren, durchaus zu Reibungen führen kann.

Vor einigen Tagen berichtete ein Kritiker-Kollege von einem unangenehmen Disput zwischen einem Kellner in einem der zahllosen Restaurants entlang der Croisette und einer Gruppe asiatischer Festivalgäste. Bei der Stichwahl Ende April holte Emmanuel Macron in Cannes gerade mal 52,6 Prozent der Stimmen. Wenn man im Mai über die Promenade schlendert, ist das schnell mal vergessen.

Vertraute, sehr weiße Milieus

Das französische Kino tut sich allerdings auch sehr schwer, gewisse Ressentiments zu überkommen. Sein äußeres Erscheinungsbild ist auch in diesem Jahr, unabhängig von der Qualität der Filme, auffallend homogen. Ob die neuen Filme von Arnaud Desplechin, Emmanuel Mouret und Michel Hazanavicius oder aber auch von geschätzten Regisseurinnen wie Claire Denis, Mia Hansen-Løve und Alice Winocour – man bewegt sich im Kino dieses Jahr in vertrauten sozialen und sehr weißen Milieus.

Die französische Filmemacherin Léa Mysius erinnert darum im kurzen Publikumsgespräch zu ihrem zweiten Spielfilm „Les Cinq Diables“ daran, dass Frankreich eben auch anders aussieht, als es sich gewisse politische Kräfte im Land gerade wünschen. (Die fünf Teufel des Titels sind der Name einer Kette von Gipfeln in den französischen Alpen.) Joanne (Adèle Exarchopoulos) lebt mit ihrem senegalesischen Mann Jimmy (Moustapha Mbengue) und ihrer gemeinsamen Tochter Vicky (Sally Dramé) in einer Kleinstadt am Rande der Berge; sie arbeitet als Schwimmlehrerin, er als Feuerwehrmann.

Ihre Tochter verfügt über die Gabe, Gerüche besonders intensiv wahrzunehmen: Sie kann ihre Mutter, die sich vor ihr versteckt (ein sprechendes Bild von Mutterschaft im Film), mit geschlossenen Augen riechen. Außerdem hat Vicky eine Verbindung in die Vergangenheit, was in diesem Fall allerdings keine Superkräfte sind, sondern eine Mischung aus Spiritismus und familiärer Bande. Denn die Ankunft von Jimmys Schwester Julia (Swala Emati), die wegen Brandstiftung im Gefängnis saß, setzt eine Dynamik in Gang, die die Zehnjährige immer tiefer in die Vorgeschichte ihrer Eltern und der Tante fallen lässt. Vicky nimmt die junge Frau, die aussieht wie sie und ihr Vater, als Bedrohung war – vor allem für die Beziehung ihrer Eltern.

Neue Stimme im französischen Kino

Es macht großen Spaß, dabei zuzusehen, wie souverän Mysius die Lebenswirklichkeit ihrer Figuren und die unterschiedlichen Tonalitäten von Familiendrama und fantastischen Elementen immer wieder verbindet und zur Überlagerung bringt. Die Regisseurin, die zusammen mit Paul Guilhaume auch für die Kamera verantwortlich ist (und außerdem das Skript geschrieben hat), findet naturalistisch-überhöhte Bilder, denen das Übersinnliche und das Traumhafte nie äußerlich sind. Mysius hatte zuletzt mit Céline Sciamma und Jacques Audiard das Drehbuch für das Generationenporträt „Wo in Paris die Sonne aufgeht“ geschrieben. Das französische Kino ist mit ihr um eine Stimme reicher.   

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Auch der Sozialrealismus der belgischen Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne war bei aller Empathie für die Unterdrückten und Ausgegrenzten stets sehr eurozentrisch konnotiert. Selbst in „Das unbekannte Mädchen“ von 2016 war die afrikanische Migrantin nur eine geisterhafte Erscheinung, im Mittelpunkt steht das schlechte Gewissen der von Adèle Haenel gespielten Ärztin. Ihr Wettbewerbsbeitrag „Tori e Lokita“ dreht die Perspektive nun um, ohne den Modus einer ständigen Fluchtbewegung, der alle Filme der Dardenne-Brüder bestimmt, zu wechseln.

Der 12-jährige Tori (Pablo Schils) aus Kamerun und die 16-jährige Lokita (Joely Mbundu) aus Benin haben sich auf der Flucht kennengelernt und geben sich, in Belgien angekommen, als Geschwister auf. Aufgrund seines Alters darf der Junge im Land bleiben, nun müssen sie beweisen, dass Lokita seine Schwester ist, damit sie ebenfalls das Bleiberecht erhält. Für einen Koch übernehmen sie kleinere Drogendeals, um sich etwas Geld zu verdienen, aber das Mädchen hat auch noch Schulden bei ihrem Schlepper.

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Die Dardennes begleiten die beiden Hustler in ihrem typischen semi-dokumentarischen Stil bei ihren Gaunereien und den Wegen auf die Einwanderungsbehörde. Ihre Nahaufnahmen von Gesichtern und die halbnahen Einstellungen sind aber im Kontrast dazu sehr kalkuliert, so dass man sich der emotionalen Wirkung des Spiels der beiden Laiendarsteller kaum entziehen kann.

Doch auch wenn man gegen die Gesetzmäßigkeiten und den Formalismus des Dardenne-Kinos längst immunisiert ist (vor 23 Jahren sorgte die Goldene Palme für „Rosetta“ noch für einen kleinen Eklat), nimmt einen der Witz und die Anpassungsfähigkeit von Pablo Schils‘ Tori, der sich sowohl auf der Straße als auch auf dem Amt zu behaupten weiß, vom ersten Moment an ein. Die besten Filme der Dardenne-Brüder lebten immer ­– anders als ihre Arbeiten mit Stars wie Haenel und Marion Cotillard –von der Unbefangenheit ihrer Laiendarsteller, die sie immer wieder entdecken.

So dürfte „Tori e Lokita“ im laufenden Wettbewerb seinen Eindruck hinterlassen, auch wenn die Dardennes vertrautes Terrain nicht verlassen. Im Jury-Mitglied Ladj Ly, der vor drei Jahren mit dem Banlieue-Actiondrama „Die Wütenden“ in Cannes eine Auszeichnung gewann und ein Kritiker des homogenen europäischen Kinos ist, dürften die Brüder einen Fürsprecher finden. Die Konkurrenz um die Goldene Palme ist allerdings, so viel steht auf der Zielgraden von Cannes fest, in diesem Jahr sehr überschaubar. Das Problem mit den Dardenne-Brüdern besteht eben leider auch darin, dass sie sich sehr leicht als Feigenblatt für sozial engagiertes Kino vereinnahmen lassen.

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