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Fundstück. Die soeben entdeckte Studie eines Kopfes (oben) erinnert an den Söldner in der Erstfassung der "Bekehrung des Paulus" (1600).

© dpa

Carravagio-Funde: Matrix eines Malers

Der Sensationsfund: Zwei italienische Forscher haben 100 unbekannte Werke Caravaggios entdeckt. Geschätzt wird ihr Wert auf 700 Millionen Euro. Zu ihrem sensationellen Ergebnis kamen die Forscher zunächst durch ein Paradox.

Zu einem Zeitpunkt, da sich in Italien die diensthabenden Medienleute seelisch längst zum abendlichen Aperitivo verabschieden, stellte die italienische Nachrichtenagentur ANSA gestern mal eben eine kunsthistorische Sensation online. „Caravaggio: 100 nie gesehene Zeichnungen wiedergefunden“, hieß die am Donnerstag um 18.37 Uhr verbreitete Meldung, in der Unterzeile diskret mit „Die Wissenschaftler suchten schon seit 100 Jahren danach“ angereichert. Ganz im Kleingedruckten dann verlor sich der Hinweis der beteiligten Forscher: „Eine wahre Revolution des Systems Merisi“.

So beiläufig lässt sich eine Nachricht der Meisterklasse an, die den Blick auf die Barockmalerei und ihren frühen Großkünstler Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio nach dem Herkunftsort seiner Eltern bei Bergamo, neu schärfen wird. Die Rede ist von nicht weniger als 100 bislang völlig unbekannten Werken, vor allem Zeichnungen und einigen Gemälden, allesamt entstanden zwischen dem 13. und 17. Lebensjahr des Künstlers – während seiner Lehrzeit 1584 bis 1588 bei dem Manieristen Simone Peterzano. Gefunden wurden die Werke im der Stadt Mailand gehörenden Schloss Sforzesco, wo der Fundus Peterzanos verwahrt wird. Geschätzt wird ihr Wert – nach heutigen Auktionsmaßstäben gerechnet – auf sagenhafte 700 Millionen Euro.

"Bekehrung des Paulus"
"Bekehrung des Paulus"

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Der Coup der Kunsthistoriker, laut der Nachrichtenagentur Ansa in jahrelangen Recherchen akribisch vorbereitet und abgesichert, kommt übrigens passgenau und mit durchaus kommerziellem Hintergrund. Denn an diesem Freitag veröffentlicht die Expertengruppe um Maurizio Bernardelli Curuz und Adriana Conconi Fedrigolli ihre Ergebnisse höchst zeitgemäß – in zwei umfangreichen E-Books bei Amazon. Und das, um den Zugang möglichst barrierefrei zu gestalten, gleich in vier Sprachen.

Zu ihrem sensationellen Ergebnis kamen die Forscher zunächst durch ein Paradox. Sie hielten es schlicht für unmöglich, dass Caravaggio keinerlei Kreativspuren aus seinen Lehrjahren bei dem damals extrem gefragten Maler hinterlassen hatte. Also forschten sie an den Lebensorten Caravaggios und in Mailänder Kirchen und „durchsiebten dann regelrecht“, so Ansa, den Peterzano-Fundus, der 1378 Zeichnungen des Meisters und seiner Schüler enthält.

Dabei erarbeiteten die Experten laut Bernardelli Curuz, dem künstlerischen Direktor der Museenstiftung von Brescia, zunächst einen „geometrischen Kanon“ jener Gesichter und Figuren, die Caravaggio in Rom malte, seiner ersten Station nach der Lehrzeit in Mailand. „Jeder Maler hat eine solche stilistische Matrix, die sich immer wieder im Gesamtwerk belegen lässt“, sagen die Forscher. Für Caravaggio wurden sie so bei 83 der nun 100 neu ihm zugeordneten Werke gleich mehrfach in seinen späteren Arbeiten fündig. Die detektivische Arbeit ging so weit, dass die Recherchegruppe sogar einen hangeschriebenen Zettel eindeutig Caravaggio zuordnen konnte. Dies habe eine graphologische Untersuchung ergeben, zitiert Ansa die beiden Wissenschaftler, die zwei Jahre lang die Forschungsarbeiten leiteten.

Keine Frage, dass sich die Kunsthistoriker in aller Welt nun auf die Forschungsergebnisse stürzen werden. Zumal Caravaggio einer der ganz Großen ist, der – ohne eigentliche Schüler gehabt zu haben – das Werk etwa von Velázquez, Georges de la Tour, auch Rubens und Rembrandt mit seiner Hell-Dunkel-Malerei maßgeblich beeinflusste. Hinzu kommt der für jene Zeit revolutionäre und bis heute nachwirkende Mythos eines Malers, der in seinen Werk immer wieder die Nacktheit des männliches Körpers feierte. In den späten Jahren nahm der genialische Nimbus Caravaggios allerdings durch zahllose Raufereien Schaden. Aus Rom musste er fliehen, weil er in einen Fall von Totschlag verwickelt war, weitere Schlägereien mit blutigem Ausgang führten ihn bis nach Sizilien. Er starb 1610, knapp 39 Jahre alt.

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