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Tempel auf wackeligem Fundament. Mit „Ritual and Revolution“ reist man an Weems’ Seite durch Raum und Zeit in die Vergangenheit.

© Peter Hinschläger / VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Carrie Mae Weems in der Galerie Barbara Thumm: Nach 20 Jahren zurück und aktueller denn je

Schon immer politisch: Die Künstlerin Carrie Mae Weems sucht nach neuen Wegen, spricht Missstände offen an und löst sich von klassischen Ausstellungsformaten.

Die Stimme von Carrie Mae Weems weht einem leise entgegen. Fast glaubt man, die Künstlerin sei leibhaftig anwesend. Doch es sind nur ihre Worte vom Tonband, die einen direkt in die Ausstellung ziehen, hinein in die Installation „Ritual and Revolution“, die das Herzstück der Schau bildet.

Ebenjenes Werk war 1998 schon einmal in Berlin zu sehen. Carrie Mae Weems kam als Stipendiatin aus den USA ans Künstlerhaus Bethanien und präsentierte es in ihrer Abschiedsschau. Mehr als 20 Jahre später ist sie zurück, und ihre Arbeit wirkt aktueller denn je.

Während man sich zwischen bedruckten Stoffbahnen hindurchschlängelt, die an quer gespannten Leinen von der Galeriedecke hängen, hört man Weems sagen: „I have been here always / I saw everlasting death / & the endless / weeping of women“.

Die amerikanische Redensart „hanging out to dry“ – was so viel wie „im Stich lassen“ bedeutet – wird hier in ihrer Doppeldeutigkeit vorgeführt: Denn Weems’ Stoffe erinnern an frisch gewaschene Laken und zeigen gleichzeitig historische Aufnahmen von jenen, deren Schicksale von der Geschichtsschreibung vernachlässigt und ausradiert wurden.

Eine Reise in eine Vergangenheit, die keine Sieger kennt

Ihre Kulisse beschreibt eine Welt, aufrechterhalten von Unterdrückung. Was von außen wie ein antiker Tempel, majestätisch und erhaben wirkt, steht auf einem wackeligen Fundament. Im Inneren des Stofflabyrinths sieht man Hopi-Indianerinnen, die ihre Köpfe abwenden, und Civil-Rights-Demonstranten, die 1963 beim Protestmarsch von Birmingham willkürlicher Polizeigewalt ausgesetzt waren.

Wie ein Mantra legt sich Weems’ Text über die Bilder. Sie schreibt sich selbst als allwissende, allgegenwärtige Erzählerin in die Weltgeschichte ein, indem sie Katastrophen, Aufstände, Kriege und traumatische Wendepunkte aus der Ich-Perspektive einfühlsam reflektiert: „I was with you / in the hideous mise en scene / of the Middle Passage. Sie hat den Sklavenhandel miterlebt und die Große Hungersnot in Irland. Sie war da, bei der Kubanischen Revolution und dem Militärputsch in Chile. Sie hat miterlebt, wie Malcolm X erschossen wurde.

Plötzlich ist man selbst Teil dieser Erzählung, reist an Weems’ Seite durch Raum und Zeit in eine Vergangenheit, die keine Sieger kennt. Je tiefer man in die Geschichte eintaucht, desto desaströser erscheint die Basis, auf der das kulturelle Erbe des Westens aufbaut.

Weems tritt Tempeln der Geschmacksbildung entgegen

Wie strukturelle und institutionelle Gewalt die Gesellschaft und die Kunstwelt im Speziellen bestimmen, macht Carrie Mae Weems, 1953 in Portland geboren, seit mehr als drei Jahrzehnten in Fotografie, Performances, Texten und Kurzfilmen sichtbar. Exemplarisch steht dafür ihre Fotoserie „Museums“ von 2006, für die sie sich selbst ins Bild setzte. Vor dem Louvre und dem Dresdner Zwinger brachte sie sich, im schwarzen, bodenlangen Kleid, mit dem Rücken zur Kamera in Stellung.

Entschieden tritt sie diesen Tempeln der Geschmacksbildung entgegen, in denen die Geschichte viel zu lange aus einer weißen, männlichen Perspektive erzählt wurde: ihre Pose ist als Anklage gegen den institutionellen Ausschluss und zugleich als Beharren auf dem eigenen Standpunkt zu verstehen.

Ein Bild aus der Serie „Museums“.
Ein Bild aus der Serie „Museums“.

© Galerie Barbara Thumm/ Carrie Mae Weems

Für Weems sind diese Inszenierungen keine Selbstporträts, vielmehr soll ihr Körper – wie zuvor schon ihre Stimme in „Ritual and Revolution“ – als Identifikationsfigur für alle eintreten, die aus den Museen und der Geschichtsschreibung ausgeschlossen wurden.

Es hat gedauert, aber in der amerikanischen Museumslandschaft behauptet Weems inzwischen ihren Platz: 2013 erhielt sie die renommierte MacArthur Fellowship, ein Jahr später wurde sie als erste afroamerikanische Künstlerin mit einer Retrospektive im New Yorker Guggenheim Museum geehrt. Junge Künstler wie LaToya Ruby Frazier und Kalup Linzy nennen sie als Vorbild. Und auch außerhalb der Kunstwelt hat sie zahlreiche Freunde und Bewunderer, darunter den Regisseur Spike Lee oder Rapper Kendrick Lamar.

Anerkennung für bislang unterrepräsentierte Positionen

Auf dem Kunstmarkt sind Carrie Mae Weems’ Werke – wie die ihrer afrikanischen und afroamerikanischen Kollegen – gefragter denn je. Im November wurde ihre Arbeit „Kitchen Table Series“ (1990) im New Yorker Auktionshaus Christie’s versteigert, der Preis kletterte von geschätzten 100 000 auf 190 000 Dollar – ein Auktionsrekord.

Das dürfte neben gefeierten Ausstellungen wie „Soul of a Nation“ und „We Wanted a Revolution: Black Radical Women“ auch ambitionierten Galeristen wie Jack Shainman zu verdanken sein, der Weems seit 2008 in den USA vertritt.

Die Preisentwicklung lässt sich als Teil einer gesamtgesellschaftlichen Verschiebung sehen: Der Diskurs kommt langsam in Bewegung, bislang unterrepräsentierte Positionen erhalten die verdiente Anerkennung. Aber machen wir uns nichts vor: Für den Großteil der Akteure bleibt die Kunstwelt prekär – ein System, das sich auf Ungleichheit, Ausbeutung und etablierte Hierarchien stützt.

Weg von klassischen Ausstellungsformaten

Wie schafft man in diesem Klima als person of colour, als Frau, als Mutter Kunstwerke, ohne auf diese Kategorien festgelegt zu werden? Wie arbeitet man mit Museen zusammen, die nach außen hin diversity predigen, diese Haltung in Personalentscheidungen aber nicht vertreten?

Weems sucht nach neuen Wegen, spricht Missstände offen an und löst sich von klassischen Ausstellungsformaten. Im Guggenheim und zuletzt in der Londoner Serpentine Gallery zeigte sie nicht nur ihre eigenen Werke – sie verwandelte die Institutionen in Festivalbühnen und Dialogplattformen, die sie mit befreundeten Künstlern, Musikern, Aktivisten und Kritikern teilte.

Weems liefert Bilder für ein tief gespaltenes Amerika, in dem Nationalismus und rassistisch motivierte Polizeigewalt latente Themen sind. So ruft ihre Arbeit „Blues and Pinks“ Erinnerungen an die Black-Lives-Matter-Demonstrationen von Ferguson und Charlotte wach. Doch Weems’ colorierte Schwarz-Weiß-Fotoarbeit, schief an der Wand angebracht, stammt von 1993: Und auch hier greift sie auf historisches Bildmaterial der Bürgerrechtsbewegung von Birmingham zurück.

Es sind Sinnbilder für eine aus den Fugen geratene Welt. Fotos, die sich in Amerika ob ihrer Brutalität ins Gedächtnis gebrannt haben und dennoch schmerzlich nah an der Gegenwart sind: junge Schwarze, die von Wasserwerfern zurückgedrängt und von Polizisten misshandelt werden.

Auch wenn Weems’ Praxis untrennbar mit den Erfahrungen ihrer schwarzen Community verbunden ist, ist sie mehr als eine engagierte afroamerikanische Künstlerin, mehr als eine Aktivistin, die in ihren Arbeiten Systemkritik übt und für Marginalisierte eintritt. Ihre Kunst steht für sich selbst. Sie bewegt über gesellschaftliche Grenzen jeglicher Art hinweg, weil sie Geschichten von Trauma und Exklusion inklusiv und neuartig erzählt.

Das Prinzip des Storytellings bestimmt Weems’ Werk von Anfang an. Schon während ihres Studiums Mitte der achtziger Jahre in Berkeley beschäftigte sie sich mit Erzähltraditionen, mit Oral History als Methode. Text und Bild existieren in ihren Arbeiten stets gleichwertig, und so ist letztendlich auch jedes ihrer Werke ein Gesprächsangebot, das sich an alle richtet – an die, die ihr Schicksal teilen, und an die, die Diskriminierung nie erfahren mussten. Selbst an jene, für die Intersektionalität noch immer ein Fremdwort ist. Es ist an der Zeit, dass ihre Stimme auch außerhalb von Amerika gehört wird. Denn ihre Aussagen haben überall Gültigkeit.
[Galerie Barbara Thumm, Markgrafenstr. 68; bis 1. 2., Di–Fr 11–18 Uhr, Sa 12–18 Uhr]

Laura Storfner

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