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© dpa

''Cassandra'' und ''Elektra'': Kirsten Harms’ Doppelschlag an der Deutschen Oper

Spannung im Saal, Augenblicke einer an der Deutschen Oper Berlin lang entbehrten Selbstvergessenheit des Musiktheaters. Bei Kirsten Harms Inszenierungen von "Cassandra" und "Elektra" spürt man, wie stark das Opernherz an der Bismarckstraße schlägt.

Wenn Elektra und Orest sich wiedersehen, die Schwester-Hassgeburt und der Bruder-Rachegott, nach Jahrzehnten der Ungewissheit und des liebelosen Dahinvegetierens, dann ist das, gemeinhin, eine Eruption: der konzentrierten Orchesterkraft, der verdrängten Affekte, der mythisch gestauchten Zeit. Wie ein Cluster sprengt Elektras „Orest!“-Schrei jäh alle noch irgend geltenden (musikalischen) Bezüglichkeiten. Ein schwarzes Loch, in dem jedes „Es war“ und jedes „Es wird“ zur Hölle fährt und gen Himmel schießt; ein Paradebeispiel für das, was Richard Strauss 1949 im Blick auf seine frühe kühne Partitur – nicht ohne den Selbstekel des alten Mannes – „psychische Polyphonie“ genannt hat. Und ein großer, leuchtender Theatermoment.

Anders als Georg Solti oder Giuseppe Sinopoli, Karajan, Sawallisch oder Böhm nimmt Leopold Hager diesen Moment mit dem Orchester der Deutschen Oper eher lyrisch, kantabel, fast zart, als verschluckte sich hier ein Gefühl, ein überlebensgroßes, monströses, von dem man bis zum Schluss nicht weiß, ob es höchsten Triumph oder tiefstes Entsetzen verheißt. Der Bruder, der vielleicht doch zu spät kommt; die Schwester, die ihrem Trauma erlegen ist; die Blutrache für Agamemnon, den gemeuchelten Vater, als einzige Utopie. Auch die Zäsur vor dem Schrei kennt bei Hager weiche Kanten, die Nerven, die hier blank liegen, scheinen weniger zum Zerrreißen gespannt als auf irre Weise plötzlich beruhigt. Der Bruder ist da, endlich da. Und die fabelhafte Jeanne-Michèle Charbonnet legt in das, was sie ihrem Erlöser zu singen und zu sagen hat, alle mystische Verzückung, alles vergrabene und vergessene Liebessäuseln dieser Welt – mit mehr guttural verschämtem als heldischem, aber sauber geführtem und klug seine Kräfte einteilendem Sopran. „Hehres, unbegreifliches, erhabenes Gesicht, / o bleib’ bei mir! Lös nicht / in Luft dich auf, vergeh’ mir nicht“.

Ein Fanatiker des Machartlichen bei Strauss ist der Salzburger Hager – derzeit Musikchef an der Wiener Volksoper – also nicht. Alles Chromatische, Dissonante, Geschichtete dieser Musik wirkt bei ihm nicht gespreizt oder gar selbstreferentiell, sondern stets gebunden, ja eingebunden: in den Sog des fatalen Geschehens wie in eine sehr sympathische kapellmeisterliche Bescheidenheit. Dem Beginn (Mägde-Szene) mag es auf diese Weise zwar an Schärfe fehlen, auch erscheinen Hagers Tempi nicht immer zwingend, doch dieser Abend ist vor allem eines nicht – und darin liegt die „Elektra“-Kunst: Er ist nie zu laut. Der Atriden-Mythos als Kammerspiel, und am Horizont dräut bereits Strauss’ Kehrtwendung hin zur tonalen Uneigentlichkeit des „Rosenkavalier“.

Die Sänger wissen es ihrem Dirigenten mit Inbrunst zu danken, allen voran Jane Henschel als Klytämnestra mit geradezu furchterregend gestanzter Textverständlichkeit, ein Ungetüm, eine hexenhaftgreise Papagena in knallrotem Federkleid. Oder Manuela Uhls Chrysothemis, die zwar ein wenig metallisch klingt, aber in dieser Härte, dieser Verhärtung auch anrührt. Ebenso Alfred Walkers sonorer, zärtlich-blutrünstiger Orest und Reiner Goldbergs Aegisth, ganz geiferndes Zerrbild seiner selbst. Und natürlich die Mägde, die ihre vertrackte Aufgabe mit großartiger Präzision und Eloquenz meistern (Nicole Piccolomini, Julia Benziongber, Ulrike Helzel, Andion Fernandez, Jacquelyn Wagner).

Spannung im Saal, Augenblicke einer an der Bismarckstraße lang entbehrten Selbstvergessenheit des Musiktheaters. Kirsten Harms, die Regisseurin, siedelt die holzschnittartige Handlung – was passiert, passiert innen – in einer Art Silo an, am Grund eines Schachts, einer Mülldeponie, einer Schädelstätte (Bühne: Bernd Damovsky). Gebeine ragen aus der Asche, in der die Figuren sich wälzen und bekriegen, das Beil wird versteckt und wieder ausgebuddelt, alles vorhersehbar, dicke Staubwolken fliegen auf, schon fürchtet man um die Sängerlungen, und das Licht hat keine Chance. Nur ganz am Ende, zur Apotheose des Tanzes, ergießt es sich hellheiß von oben herab, taucht die Szenerie in güldenstes Gold, als wäre es ein Bild von Klimt: Die tote Elektra rücklings im Kreise etwas peinlich agierender weißer Larven liegend (Choreografie: Silvana Schröder), Orest aus der Luke wie weiland Agamemnon grüßend, blutüberströmt, der Retter als Schlächter als Opfer.

Die Entschlüsselung der Vorgeschichte verdankt sich dem Schwesterstück zu „Elektra“ vor der Pause, Vittorio Gnecchis „Cassandra“ von 1905. Sehr viel mehr an Erkenntnis bietet diese Ausgrabung und dramaturgische Konstruktion freilich nicht. Um in Erfahrung zu bringen, dass KlytämnestraClitennestra ihren Gatten Agamemnon Bade erschlug, weil dieser für Troja die gemeinsame Tochter Iphigenie geopfert hatte, braucht man keine Stunde Musik, die einem in satter Melodik und sahniger Instrumentierung vor Ohren führt, wie schade es doch ist, dass Hollywood erst kurz darauf erfunden wurde und Puccini, apropos Italien, der bessere Dramatiker war.

Gewiss, sängerisch sind Gnecchis Partien attraktiv, die Besetzung kann sich erneut sehen und hören lassen: Susan Anthony als hysterisch-schrille Clitennestra, Gustavo Porta als kampfesstumpfer Agamennon sowie Malgorzata Walewska in der Titelpartie der antiken Seherin, ein füllig brodelnder, ausdrucksstarker Mezzosopran. Außer dass sich einzelne musikalische Motive in der Tat ähneln („Elektra“ wurde 1909 uraufgeführt), haben sich die beiden Einakter allerdings wenig zu sagen, von Durchdringung oder gegenseitiger Befruchtung ganz zu schweigen. Eine Zwangsehe, deren Meriten allein auf dem Papier bestehen.

Harms’ Doppelregie wirkt überdies ein wenig unbeholfen, als reichte ihre szenische und/oder psychoanalytische Fantasie am Ende nicht aus, um die archaischabstrakte Versuchsanordnung, die sie sich aufgebürdet hat, auch mit Leben, mit Kunst, ja mit Wahrheit zu füllen. „Cassandra“, das bedeutet kaum mehr als einen Spalt, einen Schlitz in der Mauer des späteren Schachts – und viel konzertantes, rampennahes Opernspiel. Da reckt und streckt das Volk oben in den Logen Chorhände und Fackeln zum Ballett, da schleift die noch junge Clitennestra einen eigenhändig geschlachteten GummiWidder hinter sich her und hat der ebenfalls noch juvenile Egisto (Piero Terranova) die Fäuste notorisch in den Hosentaschen geballt.

Ästhetisch sucht das Ganze zweifellos unter die Fittiche eines Götz Friedrich oder Harry Kupfer in den achtziger Jahren zu schlüpfen. Das mag man beklagen und gestrig finden und dem Regieteam verübeln. Wenn Elektra sich aber nach der Pause zu ihrem zweiten und dritten „Orest!“-Stoßseufzer und -Koseruf vom Bruder umarmen und in die väterliche Decke hüllen lässt, erübrigen sich solche Fragen. Dann spürt man, wie stark das Opernherz an der Bismarckstraße schlägt.

„Cassandra“ und „Elektra“: wieder am 8. und 16.11. „Elektra“ am 1. und 14. 12.

Christine Lemke-Matwey

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