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Cellosuiten: Alban Gerhardt im Radialsystem

Experiment und Beglückung: Alban Gerhardt spielt im Berliner Radialsystem alle sechs Cellosuiten von Johann Sebastian Bach.

Das hätte sich Pablo Casals nicht träumen lassen, als er sich vor 120 Jahren erstmals durch die obskuren Noten aus einem Antiquariat in Barcelona fingerte. Dass diesen Cellosolostücken von Bach, die kaum jemand kannte, das Publikum einmal buchstäblich zu Füßen liegen würde. Hingestreckt auf Matten, träumend, sinnend, meditierend, auf Höckerchen kauernd umgeben die Hörer den Cellisten Alban Gerhardt, der die Kronjuwelen seiner Zunft alle an einem Abend spielt. Im Radialsystem ist der Andrang zum „Bach-Marathon“ so groß, dass einige hundert Besucher dieser Lounge dann doch ganz klassisch auf Stuhlreihen Platz nehmen müssen, den „Hühnerleitern“, wie Gerhardt sie amüsiert nennt. Aber dennoch ist alles ganz anders als sonst. Inmitten der Hühnerleitern beginnt er, sparsam angeleuchtet, völlig entspannt und konzentriert, mit dem G-Dur-Präludium, er spielt die Stücke in der originalen Reihenfolge.

Und das ist, wie man erleben wird, genau die richtige. Ein Weg von sommerlicher Weite bis ins funkelnde Hochland der letzten Suite, durch Melancholien, Rasereien, Experimente in Stil und Material. Für den Solisten auch ein Weg durch den Saal, einmal bis unters Dach, wo er, bläulich beleuchtet, die c-Moll-Suite spielt, auswendig wie alles. Selten mal reißt der Gedächtnisfaden, damit geht Gerhardt souverän um, er bleibt konzentriert, und man ist auch nicht gekommen, um eine zirsensische Leistung zu bestaunen, sondern – ja, warum eigentlich? Wer tut sich das an, diese zwar berühmten und bewunderten, aber auch sperrigen, intellektuell anspruchsvollen Stücke als komplettes Sixpack zu hören, einen ganzen Abend nur mit den vier Saiten C, G, D und A? Ist es die enzyklopädische Sehnsucht, in einer zerpixelten, zerfallenden Welt etwas zeitlos Bedeutendes vollständig zu erleben?

Ist es der Cellist selbst, internationale Größe und handfest unprätentiöser Berliner in einer Person, dem man abnimmt, dass er nicht einfach ein Event in eine Marktlücke setzen, sondern Neues über die Musik herausfinden will? Die Leute hier sind keine notorischen Konzertgänger, eher die Sorte Kulturmenschen, die man mit fester Bestuhlung und Schnupperabos abschreckt. Nein, man weiß nicht, was einen erwartet, und genau das ist es. Deswegen wird der Weg durch den Cellokosmos so unglaublich kurzweilig und konzentriert zugleich. Die französischen Tänze von 1700, Bachs Formvorlagen, entfalten ihre kommunikative Lebendigkeit, als wären sie nie aus der Mode gekommen. Allemande, Courante, Sarabande … Der wechselnde Drive in festem Ritual hält Bachs extreme Perspektiven zusammen, jene Horizonte, die er in den formal freien Präludien aufreißt.

Besonders nahe kommt ihm Gerhardt da, wo Bach besonders persönlich wird, in der Es-Dur-Suite die Ausdruckswut seiner Weimarer Zeit an den Köthener Hof exportiert und die Harmonik bis in Götterdämmerungszonen erweitert. Mitunter schimmert durchs Präludium eine Arie, Basso continuo, Oboe, Gesang; das Cello teilt sich in drei, und Gerhardt verschärft die rhythmischen Kontraste, die irren Rotationen, die szenischen Ebenen. Die es zwar auch in den anderen Suiten gibt, dort aber so diszipliniert, so abstrahiert, dass der Cellist sie nicht auseinandernehmen mag, allenfalls mal für eine Wiederholung ins Staccato wechselt.

Ein paar mehr Freiheiten dürfte er sich schon nehmen, vor allem beim Verzieren. Dafür ist er beim Phrasieren – es gibt keine Vorschrift, welche Töne zu binden oder abzusetzen sind – ganz unbefangen, inkonsequent, um nicht zu sagen unbarock. Aber nur, wenn man hinsieht. Was man hört, überzeugt durch die Klarheit, die nur in Kenntnis der Architektur enstehen kann.

Darum hört man auch, als Alban Gerhardt bis unters Dach geklettert ist, die Fuge so deutlich wie selten, die Bach durch sein c-Moll-Präludium schimmern lässt wie Palastmauern durch Weinblätter. Man hört ohnehin anders als sonst, durch Lounge-Lässigkeit und gelegentlich umkippende Gläser keineswegs abgelenkt, sondern vom Anschnallzwang des musikalischen Frontalunterrichts befreit. Als Gerhardt dann herniedersteigt fürs Finale, geht es wirklich hoch hinaus. Diese D-Dur-Suite führt auf eine neue Ebene, sie fasst alles Vorige in verdichteter Struktur wie schwebend zusammen. Ein Überfliegerstück, das der 40-Jährige mit atemberaubender Sicherheit und Takt für Takt neugierig machender Sensibilität spielt, mit rundem, reichem, reifem, griffigem Ton, der nicht einfach schön ist, sondern etwas deutlich werden lässt.

„Mal sehen, ob ich das überlebe“, hat er vor dem Stück gesagt. Für ihn selbst scheinen hier die Erlebnisse des Abends zusammenzufließen. Ein Abend, der Zukunft hat, mitsamt Liveübertragung ins Freie und Grillwürstchen auf der Spreeterrasse. Nicht nur die hätten Bach, dem Thüringer, gefallen.

Volker Hagedorn

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